24.
Nov
2017

31
min

Hesychasmus und Solaris

In der Oblast Swerdlowsk gibt es ein Kloster, in dem fast alle Kinder der Gegend zusammenkommen, um die Kommunion zu empfangen und sich miteinander zu treffen — darunter sogar die »schwierigeren« unter den Heranwachsenden. Die Mönche helfen den Dörfern und Schulen beim Überleben und üben gemeinsam ein dem Werk »Solaris« nachempfundenes Theaterstück ein. Der Urheber dieses pädagogischen Wunders — Vater Pjotr — ist der Abt des Klosters in Werchoturje, das für seine strenge und mystische athonitische Klosterordnung bekannt ist.

"Hesychasmus und Solaris" ist ein Porträt von Marina Achmedowa und wurde in der russischen Zeitschrift "Русский репортер" veröffentlicht.

»Erlauben Sie es uns bitte, heute in der Kirche zu sein. Wenn Sieʼs nicht erlauben, dann bleiben wir eben solange draußen« — der Halbwüchsige wendet sich ab.

Hinter ihm stehen seine Kumpel und runzeln die Stirn. Aus der offenen Kirchentür dringt Wärme und das Aroma von Bienenwachs. Man hört Kinderstimmen von drinnen. Die Tür fällt wieder zu.

Über der Kirche mit den sieben Zwiebeltürmchen hängt die Sichel des Mondes. In allen vier Himmelsrichtungen, über der Steppe und den Fichtenhainen, breitet sich Dunkelheit aus. Entlegen und still ist es hier in der Provinz, im Ural. Die Tura verbirgt sich unter dem Steilufer; nur ab und an hört man das schwere Platschen eines Hechts, der sich im Wasser zweimal wendet. Hier, auf diesem Felsen, der in die Tura hineinragt, angelte einst der heilige Simeon. Auf demselben Felsen betete er, begegnete einem Dämon, stritt mit diesem und besiegte ihn. Der Dämon, da er einmal von einem Menschen besiegt worden war, hatte fortan keine Macht mehr über diesen Ort. Die Tür der Kirche öffnet sich wieder.

In der Kirche drängen sich die Kinder am Kirchenkasten, schlafen auf den Bänken, stehen mit Kerzen in ihren Händen da. Die Sänger unter den Kindern nicken fast über ihren Gebetsbüchern ein. Einige Erwachsene stehen bescheiden am Ausgang, als wollten sie dieses Reich der Kinder nicht unnötig stören. Die Jugendlichen setzen sich auf eine Bank in der dunkelsten Ecke. Aus dem Altarraum heraus tritt ein in Schwarz gekleideter Priester. Gleich geht der Gottesdienst los.

»Warum ist es weiß?«, fragt der Priester und hält sein Sticharion hoch. »Weil der Herr rein und licht ist.«

Die Kinder reichen ihm die Epimanikien, das Epitrachelion, den Gürtel. Er küsst ihn.

»Was bedeutet dieser Gürtel?«

»Christus wurde gebunden...«, antworten die Kinder.

»Auch ich binde mich so«, sagt der Priester und bindet sich den Gürtel um. Er nimmt das Phelonion von den Kindern entgegen. »Es lebte einmal ein Philosoph. Er predigte, dass es Gott nicht gibt...« — der Priester verstummt, als er die Jugendlichen in der Ecke bemerkt. »Erhebt euch, kommt etwas näher heran«, ruft er sie.

Sie werfen sich verstohlene Blicke zu, schauen sich um und nähern sich schließlich dem Altarraum.

»Doch als er noch ein Kind war, war dieser Philosoph ein sehr gläubiger Junge gewesen«, fährt der Priester fort. »Einmal spielte er mit Streichhölzern und brannte dabei Löcher in den Teppich. Er begriff sogleich: Wenn die Eltern das sehen, werden sie mich bestrafen. Er versuchte also, dieses Loch zu verbergen, doch plötzlich spürte er, dass Gott ihn sieht. Die Leute sahen ihn nicht, aber Gott, der sieht ihn. Was tat er also? Er bedeckte Gott mit allerlei Schimpfnamen. Da spürte er, wie Gott sich abwandte. So, entfernt hatte Er sich, aber nur äußerlich — in seinem Inneren, und das spürte der Junge, da war Gott. Da vertrieb er Gott auch aus seinem Inneren. Ihr findet das seltsam? Das ist aber logisch. Der Junge fühlte sich nun frei. Vielleicht wollte er sich ja schlecht benehmen, herumspringen wie ein Affe, aber Gott störte ihn dabei, und sein Gewissen verbot es ihm. So ist es eben, wenn ein Mensch sich über sein Gewissen hinwegsetzt und Gott beschimpft,« — in der Stimme des Priesters schwingt ein kindlich erstaunter Unterton mit — »antwortet Gott ihm: ›Gut, gut...‹ und geht weg. Und wenn ein solcher Mensch dann sagt, es gebe keinen Gott — dann lügt er nicht, nein! Er sagt die Wahrheit! Für ihn gibt es keinen Gott. Er hat Ihn doch verjagt… Lasst uns nun zum Herrn beten«, beginnt der Priester mit verhaltener Stimme.

In der Dunkelheit pulsieren die hellen Flammen der brennenden Kerzen. Es scheint, als ob die Vergoldung der Ikonen gleich schmelzen und verlaufen wird. Oben an dem großen Kronleuchter blinken rote, blaue, grüne Lichter. Der Kronleuchter ähnelt tatsächlich einer edelsteinbesetzten Krone. Die Kinderstimmen versuchen Noten zu intonieren, mit denen sie nicht zurechtkommen können. Der Holzfußboden knarrt. Die Jugendlichen nehmen den Kleinen die großen Kerzen mit den Kunststoffkerzenständern aus der Hand und stehen damit eine halbe, eine ganze Stunde lang still. Die Augen der Kleinsten fallen zu. Und so vergeht die Zeit.

»Ich möchte euch jetzt… Gott zu spüren geben«, sagt endlich der Priester, wobei er in der einen Hand ein Glöckchen, in der anderen einen goldenen Stab hält. »In dieser Kirche — Maschenka, Lisonka, Katjenka — ist jetzt der Heilige Geist zugegen. Wir können Ihn spüren, oder aber auch nichts empfinden. Mit welchem Organ spüren wir Ihn?«

»Mit dem Herzen!«, antworten die Kinder.

»Mit dem Her-zen… Ich zähle jetzt bis drei und klingele dann mit dem Glöckchen. Ihr aber sollt inzwischen eine Minute lang innehalten, schweigen, euch nicht rühren, und in seinem Inneren soll ein jeder von euch so beten, wie er es eben kann. Noch ist das Mysterium auf dem Altar nicht vollzogen. Das passiert in ein paar Minuten. Und es hängt nicht nur von mir, sondern von jedem von euch ab, ob es vollzogen wird. Seid ihr bereit? Eins… zwei… drei...«

Die Kirche wirkt wie erstarrt. Der Halbwüchsige, der vor ein paar Stunden an die Kirchenpforte geklopft hat, schließt seine Augen. Der Kerzenschein huscht über sein Gesicht. Alles, was auf den Ikonen dargestellt ist, wirkt räumlich. Die Kristallengel auf den Regalbrettern versprühen Funken. Das Atmen der Kinder vermengt sich mit dem Odem der Kirche, die am Rande des hintersten Winkels der Welt steht, am Ufer eines Flusses, an dem ein Fischer den Dämon besiegt hat. Kling! Die Kinder öffnen die Augen, und es scheint, als seien sie allein für diesen einen mystischen Augenblick auf ihren Fahrrädern aus den umliegenden Dörfern, zehn Kilometer weit von dieser einsamen Kirche entfernt, herbeigekommen.

»Ein Batjuschka sagte einmal: ›Alle, die sich der Kommunion für würdig halten, heben die Hände!‹«, fährt der Priester fort. »Und wisst ihr was, manche hoben wirklich die Hände! Er aber sagte zu ihnen: ›Euch werde ich heute die Kommunion nicht geben.‹ Was glaubt ihr, warum hat er das gesagt?«

»Wegen ihres Stolzes!«, antworten die Kinder.

»Im Kelch ist Christus. Wo aber geht Er ein, etwa in den Magen, in die Lunge?«

»Ins Herz!«

»Wenn aber ein Mensch stolz ist und alle verachtet«, predigt der Priester zu den Kindern, »dann wird der Herr wohl die Türe zu ihren Herzen öffnen, aber nicht eintreten können. Ihr würdet doch auch kein Haus betreten, in dem böse Menschen wohnen… Nun aber können die Kleinen und die Großen zu mir herankommen, aber nur, wenn ihr ganz aufrichtig möchtet, dass der Herr in euer Herz einkehrt.«

Die Jugendlichen stellen sich ans Ende der Schlange. Durch das Fenster sieht man die frühen, sanft orangefarbenen Ansätze der Morgendämmerung.

»Erst habe ich das gar nicht richtig verstanden! Ich konnte es nicht glauben. Gestern, während der Beichte der Kinder, da sagte man mir: ›Da sind ein paar Jungs, die wollen in die Kirche. Wenn Sie die nicht reinlassen, dann bleiben sie trotzdem da, draußen vor der Kirche.‹ Sie waren früher nicht hier, diese Jungs sind es gewohnt, dass man sie von überall fortjagt. Und als sie hierher kamen, dachten sie aus irgendeinem Grund, dass man sie auch nicht in die Kirche lassen wird… Aber eigentlich tun sie selbst alles dafür, dass man sie nicht liebt. Sie sind frech und grob.«

Vater Pjotr wird still. Und sofort hört man die Stimmen der Vögel draußen, die ihre Kehlen mit der in der Luft hängenden Feuchtigkeit nach dem Regenguss spülen. Es ist vier Uhr morgens. Der Mönch, der gerade erst die »Kinderliturgie« zelebriert hat, nimmt seine schwarze Skufja vom Kopf, legt sie auf den Tisch und grübelt oder lauscht in seine Brust hinein, indem er seinen Kopf nach unten neigt.

»Aber gestern haben diese Halbwüchsigen eine solche Demut bewiesen! Da, dieser Bandit ist mit seinen Kumpeln hergekommen! Es ist für mich ein Rätsel, was sie dazu bewogen hat, gestern in die Kirche zu kommen. Ich kann diese Kinder überhaupt nicht verstehen! Ich betrachte sie mir näher und frage mich: Wozu quälen sie sich, kämpfen mit der Müdigkeit, schlafen im Stehen ein? Vielleicht ist das für sie einfach eine Art Spaß? Vermutlich habe ich einen Fehler gemacht, als ich die Kinder beim Gottesdienst mitmachen ließ. Das gibt es ja nirgends, dass Kinder beim Gottesdienst zelebrieren.«

Dichte Wolken breiten sich über dem Land aus. Schon sieht man das Kloster weiß leuchten, man sieht es durch das Fenster. Der Zutritt ist durch ein schweres Eisentor fest verschlossen, über dem Tor sieht man ein nicht sehr einladend wirkendes Kreuz. Die Kinder des Dorfs sind gerade erst vom Gottesdienst heimgekehrt und legen sich schlafen. Aufgrund der hohen Klostermauern dringt kein Laut hinaus in die Welt des Dorfes, aber man kann doch erahnen, dass es dort Leben in vollen Zügen gibt. Vater Pjotr ist der Vorsteher dieses Klosters. Er erhebt sich, nimmt seine Skufja vom Tisch, pflanzt sie sich auf den Kopf, tritt ans Fenster heran und betrachtet durch den Tüllvorhang die erwachende Welt.

»Es ist nur eben so, dass ich eine Sache in der Pädagogik verstanden habe«, sagt er. »Es existiert so etwas wie ein Bereich der nächsten Entwicklung. Stellen Sie sich vor: Einem Erwachsenen von ernsthaften Dingen zu erzählen ist bereits zu spät, er hat in seinem Leben schon einen Haufen Mist gebaut; Kindern von erwachsenen Dingen zu erzählen ist hingegen noch zu früh — ihr Verstand ist ja noch nicht richtig erwacht. Dieser Bereich der nächsten Entwicklung bedeutet, dass man dem Kind etwas schwer verständliches, aber eben doch verständliches erzählt. Wir wollen mit den Kindern ein Theaterstück aufführen. Ich schreibe gerade das Skript dafür. Gestatten Sie mir, dass ich es Ihnen heute Abend vorlese? Es heißt ›Planet der Träume‹. Nach ›Solaris‹. Ja, das ist Science fiction… Wann kann denn die Lüge Wahrheit sein? Nur dann, wenn du Fiktion als Fiktion vorstellst. Ein Gleichnis ist ja Phantasie. Christus sprach in Gleichnissen. Der Gedanke des Stücks ist folgender: Zu Beginn vernimmt der Protagonist, Kris, eine Stimme, gleich zu Beginn des Stücks — die Stimme ruft ihn. Am Ende begreift er, dass diese Stimme göttlich ist. Die Menschen haben ja das wichtigste Mittel der Kommunikation verloren — die Sprache des Herzens. Dieser Sprache bediente sich Adam, wenn er mit Eva sprach, oder Gott, wenn Er mit dem Menschen redete… Das Herz spricht: ›Wenn du nicht weißt, wie du dich entscheiden sollst, lass dich von der Liebe leiten‹.«

Ein großer Stapel Kiefernbalken liegt zum Trocknen am Ufer der Tura. Die Luft knistert vor Hitze. An den Feldern und am Kloster entlang verläuft eine wenig befahrene Verkehrsstraße. In zweien der Nachbardörfer gibt es Sägewerke. Eine leere Werbetafel steht, an einem rostigen Pfosten befestigt, am Straßenrand. Es scheint, als würde sie den wenigen vorüberfahrenden Autos sagen wollen: »Wir haben Ihnen hier nichts zu sagen, fahren Sie nur schnell weiter, stören Sie den Frieden nicht«. Die uralten Häuser des Dorfs Kostylewo stehen windschief, neigen sich mal hier-, mal dorthin. Es gibt in diesem Dorf nicht sehr viele Häuser, aber Familien, besonders junge Familien, werden es immer mehr. Man sollte meinen, dass die Städter diesen Ort meiden müssten, denn hier erwartet sie nichts als ausweglose Stille und Depression. Aber sie siedeln sich trotzdem hier an, bringen ihre kleinen Kinder mit und bringen neue zur Welt, als würden sie sich vor der Stadt verstecken wollen, ihren Dämon fliehen, der, wie die Mönche glauben, an diesem Ort endgültig und unwiderruflich besiegt worden ist. Die Mönche selbst gehen praktisch nie durch die schweren, eisernen Klosterpforten hinaus in die Welt — sie leben auf ihrem »Berg« im Einklang mit den Vorschriften der Athos-Klöster, das heißt, sie gehen um sechs Uhr abends zur Ruhe, erheben sich um Mitternacht, beten ihre Gebetsregeln, arbeiten, und sprechen dabei jede Minute, sogar im Schlaf, in ihrem Herzen die Worte des Jesusgebets.

»Mein Großvater war ein Mullah. Mein Urgroßvater auch«, sagt der Abt des Klosters, Vater Pjotr, als wir einen schmalen Pfad in Richtung der Hangars entlang gehen, die sich jenseits des Klosters befinden. »Auch ich wollte Mullah werden. Doch je mehr ich erfuhr, desto mehr begriff ich, dass das Christentum anders ist. Im Islam gibt es mehr nationale Tradition, Ritualität. Aber wenn man ganz ernsthaft auf der Suche nach Gott ist, dann kann man nicht im Islam hängenbleiben. Ich habe begriffen, dass Gott die Liebe ist. Im Islam habe ich nicht so viel Liebe gefunden. Das Christentum aber ist eine Religion, die durch die Liebe lebt. Ich habe es damals intuitiv gespürt: Die Wahrheit ist da, wo es das Mönchtum gibt.«

Ihm kommen Frauen mit Kinderwagen entgegen. Auf gleicher Höhe angelangt, bitten sie um seinen Segen. Der Priester segnet sie und küsst die Hände ihrer kleinen Kinder.

»Das depressive Syndrom hat in jedem Haus des Dorfes Einzug gehalten«, sagt er. »Auch unsere Schule ist alt und abgelebt. Man will sie zumachen, aber wenn es keine Schule mehr gibt, dann wird es auch das Dorf bald nicht mehr geben. Ich möchte den Kindern Disziplin und eine Strenge der Gefühle beibringen, sie auf ihre innere Pflicht vorbereiten. Ist denn das schlecht?«

Am Hangar erwartet ihn ein junger Mann in einem leichten Overall. Hinter seinem Rücken hervor springt ein kleines, rosa gekleidetes Mädchen. »Tanjetschka«, sagt der Mönch, geht vor ihr in die Hocke, ergreift ihr Händchen und küsst es respektvoll. Tanjetschka rennt als erste in den Hangar und flitzt als rosa Knäuel durch die Gänge. Es riecht nach Kräutern — nach Waldweidenröschen.

Vater Pjotr schaut in die Säcke mit den Zedernzapfen. Die Mönche sammeln sie im Wald. Hier in der Werkhalle und im Kloster kocht man Konfitüre daraus. Die Zapfen knistern.

»Wie? Ja, einer unserer Mönche ist umgekommen — er ist von einer Zeder gefallen«, sagt er. »Und das auch noch von einer solchen, an der die Kinder es lernen. Es scheint fast, als habe er das Bewusstsein verloren. Er hat sich nicht gegen den Fall gesträubt, während normalerweise ein Mensch sich irgendwie vor einem Fall zu bewahren versucht. Andererseits gewöhnt man sich im Kloster an den Tod« — er betritt einen Raum, in dem auf Regalbrettern getrocknete Beeren aufbewahrt werden. Er nimmt eine Handvoll, kostet und kaut konzentriert. »Vorher ist uns auch ein Mönch gestorben, er war mit mir im gleichen Alter. Herzstillstand. Er war unheimlich zerknirscht, konnte sich nicht verzeihen, dass er das Kloster verlassen hatte«. Er nimmt eine Handvoll getrockneten Sanddorn. »Er kehrte später zurück, trug aber diesen Schmerz in sich, versuchte, ihn zu vergessen, ihn zu glätten. Weshalb verlässt ein Mönch das Kloster?« — aus seinem Blick verschwindet der Ausdruck, mit dem er auf die Kinder schaut. Mit einem solchen Blick kann man den betrachten, mit dem Simeon den Kampf aufgenommen hatte, aber dafür muss man schon Abt eines Klosters sein. Er wirft den Sanddorn zurück in die Tüte und begibt sich hinaus.

»Als ich ihn auf der Straße aufgesammelt habe« — er dreht sich um, ohne in seinem Schritt innezuhalten: die Ränder seines Talars wirbeln durch den schnellen Gang herum — »in schwerem Zustand, innerlich vollkommen leer, da fragte ich ihn: ›Vielleicht möchtest du zurückkommen?‹ — ›Nehmen Sie mich wieder?..‹ Nicht immer, verstehen Sie, nicht immer sind die Begriffe ›gut‹ oder ›schlecht‹ eine Erklärung! Menschen sind unerklärlich. Es gibt in den Menschen immer einen Zwiespalt! Wollen Sie kalten Tee?«

Er setzt sich zu Tisch. Darauf stehen bereits drei durchsichtige Teekannen mit kaltem Tee, aus Waldweidenröschen gebrüht, verschiedener Farbtöne.

»Jemand hat ihn gebrüht, als sei er für uns...«, sagt er und gießt Tee in ein Glas. »Die Sünde — das ist schlecht. Wenn du aber denkst, dass du durch die Sünde glücklich wirst, dann sündige doch! Geh unbedingt hin und sündige! Aber dann sei auch ehrlich: Merkst du, dass du unglücklich bist, dann kehre um. Leider können die Menschen nicht ganz und gar glücklich sein. Das Mönchtum war die Berufung dieses Bruders, und das Kloster zu verlassen war für ihn das Gleiche, wie es für einen Fisch ist, aus dem Wasser herauszuspringen. Warum betrachten Sie das Mönchtum immer unter einem gewissen humanitären Aspekt? Ein Mönch ist wie ein Pilot: Er fliegt, hat dutzende Systeme, die er unter Kontrolle hält. Und wenn der Mönch irgendwo nachlässig gewesen ist, dann beginnt der Prozess unkontrollierbar zu werden. Bis er schließlich in einem schwarzen Loch landet, bis er sich vollständig zerstört hat, ausgelaugt, völlig ausgebrannt ist, gegen eine Wand stößt und nackt dasteht. Krank! Und lahm… Das ist wie in dem Gleichnis über den verlorenen Sohn. Nachdem er den Vater verlassen hatte, war er schließlich zu vollkommener Verheerung gelangt. Da sprach er: ›Ich will zu meinem Vater gehen und ihm sagen, dass ich nicht würdig bin, sein Sohn zu heißen‹. Der Vater aber warf sich ihm vor die Füße, umarmte ihn, gab ihm seinen Ring und seine Kleidung. Warum wird ein Mensch zum Verräter?! Halt! Es ist sinnlos, das begreifen zu wollen!« — er trinkt das halbe Glas aus. »Ich hatte zum Beispiel eine schwere Kindheit, die Eltern stritten heftig miteinander, und ich hatte oft die Rolle eines Schiedsrichters zu spielen. Als ich zehn Jahre alt war, hörte ich ein Gespräch zwischen ihnen; sie sagten, sie wollten sich scheiden lassen. Ich weiß nicht, was mich dazu animierte, aber ich fing an zu schreien: ›Wenn ihr euch scheiden lasst, dann bringe ich mich morgen um!‹. Sie haben sich nicht scheiden lassen. Die Mutter hat es nicht bereut. Und auch der Vater hat es nicht bereut. Aber… vielleicht habe ich es ja bereut? Und schon war ich ein kleiner junger Mönch. Mein geistlicher Vater Awraam sagte mir: ›Schreib deinem Vater einen Brief‹. Was aber sollte ich ihm schreiben? Die Wahrheit. ›Papa‹, begann ich, ›warum ging es uns denn so schlecht? Ich konnte mit dir nie wirklich offen reden...‹. Vater Awraam las das und sagte: ›Sag mal, bist du ein Idiot? Unsinn hast du geschrieben‹. Und da schrieb ich, von einem sehr starken Gefühl beflügelt, eine Lobeshymne: ›Vater, ich bin dir so dankbar dafür, dass ich zu dem wurde, der ich jetzt bin. Für mich bist du das Allerwichtigste«. Damals wollte ich, dass es so ist. Jetzt aber denke ich mir: Vielleicht war es auch tatsächlich so? Er aber lief mit diesem meinem Brief herum und zeigte ihn allen Leuten. Verstehen Sie, worin der Sinn besteht? Ich habe für mich den Vater neu geboren. Und er hat mich für sich neu geboren. Er dachte, dass er schlecht sei, da aber schreibt ihm sein Sohn solche Sachen...« — er trinkt die Hälfte des halbvollen Teeglases aus. »Und was brauchen die Kinder? Man muss ihnen eine Sehnsucht danach, glücklich zu sein, beibringen. Früher habe ich sie bei der Beichte gefragt: ›Hast du Sünden begangen?‹. Und das Kind antwortete dann mechanisch: ›Ja. Ja. Ja.‹. Aber das ist nicht echt. Der wirklich geistliche Mensch erwacht im Alter von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Bis dahin ist der Mensch ein Kind. Es kam einmal ein kleines Mädchen, und ich fragte es:

›Wie geht es dir so?‹

›Wun-der-bar!‹

Also nicht nur gut, sondern wunderbar. Was aber ist für das kleine Mädchen besser: Soll es erfahren, wie schlecht es ist, wie zickig es sich zuweilen verhält? Soll es das erfahren und sich das Verständnis der Erwachsenen davon, was Sünde ist, aneignen? Oder sollte man in ihm lieber diesen Zustand des kindlichen Glücks unterstützen? Deshalb nehme ich ein Kind immer so zu mir« — er zeigt, wie er mit seinem Arm ein Kind um den Hals umarmt:

»›Schau mal auf diese Ikone und sprich in deinem Herzen: ›Herr, vergib mir alles‹. Aber sprich es aufrichtig« — er flüstert, schiebt das Glas mit dem noch nicht ausgetrunkenen Tee beiseite. »Man darf ein Glas nie vollständig leeren«, sagt er. »Man darf sich nie so weit miteinander aussprechen, dass man wirklich alles gesagt hat, es muss immer noch ein gewisser unausgesprochener Teil bleiben, der wiederum etwas Neues zum Leben bringt. Der Mensch muss jederzeit immer neue Türen öffnen wollen. Wenn der Mensch satt wird, dann bleibt er stehen, und das ist der Augenblick des Todes. In der Kindheit darf es keine glückliche Liebe geben, das ist ganz und gar nicht angezeigt! Denn sonst lebt der Mensch dann als Erwachsener im gestrigen Tag, dabei sollte er sich ein jedes Mal auf das Morgengrauen freuen. Ein Kind, das noch nicht erprobt ist, noch nicht den erwachsenen Gewissenssinn besitzt, und das dabei eine glückliche Jugendliebe erfährt, wird seine Seele nie sättigen können, es wird sich immer der Vergangenheit zuwenden. Das Glas muss man — zack! — einfach wegnehmen« — dabei räumte er die Gläser weg. »Ein Mensch, der noch nicht fähig ist zu lieben, hat kein Recht auf die Liebe.

Ich aber? Ob ich in der Kindheit glücklich gewesen bin? Ich habe es Ihnen ja schon gesagt — nein. Aber jetzt lebe ich meine Kindheit. Ja, meine Kindheit! Ja! Ich bin ein Kind! Stellen Sie sich das mal vor — ein Kind. Ich möchte nicht, dass das albern oder eigenartig klingt… Es ist, als würde der Herr mir sagen: ›Erinnerst du dich, du wolltest einen Apfel essen, aber Ich habe dir keinen gegeben. Nun iss. Nun labe dich daran. Erinnerst du dich, dass du damals keine Freunde hattest? Ich habe dir keine gegeben. Nun aber schau, wie viele Freunde du hast‹. Nein! Ich vergesse mein Leid nicht. Im Gegenteil, ich bin dankbar dafür. Es gibt zum Beispiel in ›Solaris‹ einen solchen Tanz…

Er legt sein Mobiltelefon auf den Tisch. Es erklingt ein metallisch schepperndes ›Nothing else matters‹. Der Mönch wirft seine Arme in die Luft und dirigiert einen Tanz, der sich in seiner Vorstellung abspielt.

»Der kranke Schwan betritt die Bühne. Er versucht, die Rosen zu erreichen, schafft es aber nicht, zu schwach ist er. Fällt zu Boden. Ein zweiter Schwan kommt herangeflogen, kreist über dem ersten« — die Ärmel seiner schwarzen Kutte fliegen — »und versucht, den Kranken aufzurichten. Doch dieser schafft es einfach nicht« — der Mönch stützt sich mit den Händen an den Tischecken auf. »Der zweite Schwan versteht es nicht, warum der Kranke sich nicht erheben kann«; Vater Pjotr verstummt und schweigt eine lange Zeit. Er ist verlegen geworden und weiß nicht, ob der dieses Thema fortführen soll oder nicht. (»Wir sind so nah, egal, dass zwischen uns Welten liegen. Alles übrige ist nicht wichtig«, singt derweil das Telefon.) »Der zweite Schwan«, sagt der Mönch nun gefasst, »versucht, sich auf den Kranken einzustellen. Und da…« — der Mönch greift sich an den Bart — »hält er es nicht mehr aus und reißt sich ein rotes Band aus der Brust heraus. Der Kranke springt auf und kreist, kreist mit diesem Band. Der andere aber… der andere fällt… Dann lässt sich der erste Schwan neben ihm nieder und fragt: ›Was ist denn mit dir?‹. Und die Moral?« — das Gesicht des Mönchs wird wieder streng, durch seine Augen blickt mich der Abt an — »Die Moral«, sagt er in strengem Ton, »ist, dass es nicht möglich ist, einen Menschen zu retten, wenn man sich nicht selbst dabei opfert. Du hast kein Recht zu sagen ›Ich liebe dich‹, wenn du nicht dazu imstande bist, für diesen Menschen zu sterben.«

Die große Klosterglocke setzt zum Geläut an. Der Mönch eilt Hals über Kopf zum Gottesdienst.

»Ich habe Tarkowskis gesamtes Werk gesehen und begriffen, dass es nichts gibt, wofür man ihn loben sollte« — Vater Pjotr macht sein Notebook auf. Er sitzt an einem Tisch im Refektorium. Seine schwarze Skufja ruht unter seinem Ellenbogen. Draußen ist es Nacht. »Ein Meister ist des Lobes würdig, er hat ja ein Kunstwerk geschaffen. Tarkowski aber… er hat nichts eigenes gesagt. Die Aufgabe eines Genies ist es, das herüberzubringen, dessen es sich selbst nicht bewusst werden kann. Dazu muss es bis zum Äußersten transparent sein.«

Der Mönch, der gerade eben einen stundenlangen Klostergottesdienst zelebriert hat, bei dem nur Schwarzkutten zugegen waren, der Mönch, hinter dessen Rücken gerade eben, kaum, dass sie sich kurz einen Spaltbreit geöffnet haben, die schweren Klosterpforten ins Schloss gefallen sind, deklamiert verlegen ein Gedicht zur Musik. So beginnt das Szenario; in der Werkstatt — einem Häuschen in unmittelbarer Nachbarschaft des Gästehauses — wird er es bald gemeinsam mit den Kindern durchgehen.

»Die Spuren der alten Sandalen führen durch das Dickicht der Jahrhunderte...«, deklamiert der Mönch mit einer kindlichen Stimme.

Der Vorhang geht auf. Ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren namens Kris Kelvin sitzt an einem Tisch. Sein Vater kommt herein.

»Du fliegst für eine lange Zeit fort, Kris. Es kann sein, dass wir uns nie wiedersehen werden...«

»Ja, ich möchte für immer auf Solaris bleiben. Eine unüberwindbar mächtige Stimme ruft mich an die Grenzen des Weltgefüges, Vater!«

»Der kalte Nordwind… Wenn der Stern Adelaide aufgeht, wirst du verstehen, was wirklich ist, und was nicht.«

»Das ist eine Allusion auf die Parabel vom Verlorenen Sohn«, erklärt der Mönch. »Der Sohn hat keinen Bedarf am Vater, der Sohn hat nicht vor, dem Vater mit Gegenliebe zu begegnen.«

Musik ertönt. Die Stimme von Boris Grebenschtschikow singt: »Fürchte nicht das Klopfen am Fenster, das ist für mich, das ist der Nordwind… Du hörst das Schlagen deines Herzens – die Sense trifft auf einen Stein. Es gibt weder Kummer, noch das Böse, noch den Stolz… wenn der Stern Adelaide aufgeht«.

Auf Solaris riecht ein irrer Mensch an den Rosen und weint. Zittert und weint. Das ist Doktor Snaut.

»Ich bin Kris Kelvin! Ich bin von der Erde hierher geflogen!«

»Preis sei den Himmeln!«, ruft Snaut. »Wie lange du doch unterwegs warst, Kris!«

»Ich möchte meinen Freund Doktor Gibarian sehen. Ich hoffe, er hat sich nicht irgendwohin auf den Weg gemacht.«

»Hat er nicht. Wird er auch nicht...«

»Wieso?! Ein Unglück?!«

»Nein… Er befand sich immerzu im Zustand einer schweren Depression! Doktor Kelvin, auf der Station sind wir nur zu dritt – Sie, Sartorius und ich, wenn Sie aber noch jemanden sehen...«

»Doktor Snaut, nehmen Sie sich zusammen! Alles, was Sie gesehen haben mögen, sind Halluzinationen!«

»Das möchte ich etwas genauer betrachten« — der Mönch löst sich vom Text. »In dieser Szene will ich den Kindern zeigen, wie überheblich die Jugend sein kann. Wir werden uns zusammensetzen und den Sinn einer jeden Episode besprechen… Zuerst aber muss ich Ihnen gegenüber etwas zugeben!« — er springt auf, tritt ans Fenster heran und schaut durch das dichte Tüll in die Nacht hinaus.

Innerhalb der Klostermauern sind die Mönche bereits erwacht – die Nacht hat begonnen. Schon klopfen ihre Herzen unter den schwarzen Kutten im Takt des Jesusgebets. In diesen Mauern leben ein paar Dutzend Mönchsbrüder. Nur, wenn sie schlafen, beten sie nicht.

»Solaris ist das, was ich in meiner Kindheit durchlebt habe«, beginnt der Mönch. »In der ersten Klasse saß ich gemeinsam mit einem Mädchen an einer Schulbank, und sie war so schön, dass ich mich in sie verliebte. Sie war eine Ballerina. Aber im vierten Schuljahr kam ein anderes Mädchen zu uns in die Klasse – eine Pippi Langstrumpf. Sie gefiel mir, und ich wollte mit ihr an einer Schulbank sitzen und beschloss, das andere Mädchen – Tanjuscha – zu verdrängen. Ich nahm ihr immer mehr Platz weg, kniff sie… Ja-ja, ich«, flüstert er. »Ich spürte, wie die Sache sich immer weiter zuspitzte – gleich würde sie sich von mir wegsetzen. Sie saß rechts von mir. Hm? Nein, nein, damals hieß ich nicht Pjotr. Ich war Raschid… Sie schaute sich also so um und betrachtete mich mit einem stillen Engelsblick, lächelte und sagte: ›Was machst du denn da, hm?‹. Dieser Blick bleibt mir für das ganze Leben im Gedächtnis! Das ganze Leben… ›Was machst du denn da, hm?‹ Gern würde ich dieses Mädchen wiederfinden! Zu ihr laufen, sie um Vergebung bitten! Einfach irgend etwas tun, damit sie mir vergibt… Und nun bin ich bereits im Kloster, ich diene Gott, nehme den Leuten die Beichte ab, aber die Frage bleibt: Wie konnte ich mir so etwas erlauben?. Einmal aber wurde ich folgender Überlegung gewahr: ›Herr, könnte man die Zeit zurückbringen, würde ich unbedingt in der Zeit zurückgehen und nicht so handeln‹. Der Herr aber sagt: ›Keine Frage! Ich bringe dich zurück.‹ — ›Wie?!‹ — ›Ich bringe dich zurück‹. Und der Herr bringt mir diese Tanja zurück. Aber es war nun eine Tanja, die meinen Kräften, meinem Verstand und meinen Möglichkeiten entsprach. Wo sie ist? Da, Sie sitzen doch direkt vor mir! Sie zerren, schlagen mich, ich aber weiß — es geschieht mir recht. Das ist Buße! Ich wurde als Beichtvater in einem Nonnenkloster eingesetzt. Ich musste hundertzwanzig Schwestern die Beichte abnehmen. Tanjetschka ist zurückgekehrt, und ich habe sie um Vergebung gebeten. Ein jedes Mal durchlebe ich diese Tatjana aufs Neue. Das, was du ändern möchtest, bringt der Herr zurück… Nach Stanislaw Lem ist dem Kris auf Solaris seine Frau erschienen, die zehn Jahre zuvor seinetwegen gestorben war — er trieb sie in den Selbstmord. Ich habe diese Geschichte einfach für Kinder adaptiert. Zeige ich Ihnen gleich...«

Das Hologramm von Doktor Gibarian taucht vor Kris auf.

»Ich musste das tun, Kris. Die Kraft, welche mir auf der Erde das Leben gegeben hat, befiehlt mir hier, auf Solaris, auf das Leben zu verzichten...«

Die Tür öffnet sich, ein Mädchen kommt herein. Kris wird starr vor Entsetzen.

»Kris! Nur du kannst mit diesem Ungeheuer zurechtkommen!«, schreit Gibarian, wonach sein Bild erlischt.

Darauf läuft auch das Mädchen davon.

»Noch vor einer Stunde hielt ich mich für einzigartig und unverwechselbar!«, ruft Kris. »Und nun ist für mich gar das Atmen unerträglich!«

»Verstehen Sie, worin der Sinn besteht?« — der Mönch schmunzelt. »Jedem der Kosmonauten erscheint auf Solaris seine ›Tanjetschka‹. Jene Tatjana, die ich gekränkt habe und die der Herr mir in Ihrer Gestalt gesandt hat! Und ich bin verpflichtet, all Ihre Besonderheiten zu ertragen! Selbst, wenn Sie mir zusetzen...«

Kris erwacht. Das Mädchen steht über ihm.

»Woher kommst du, Hari?«

»Ich habe keine Ahnung!«

»Ich muss gehen!« — Kris versucht davonzulaufen. »Störe mich nicht! Ich bin hierher gekommen, um mich vollständig der Arbeit hinzugeben!«

»Kris! Aber ich...! Ich… fühle eine unwiderstehliche Macht, einen starken Wunsch, für immer bei dir zu bleiben!«

»Hari, was glaubst du, wo du bist?! Wie alt bist du?!«

»Ich bin natürlich bei uns in der Schu...le… Ich bin vierzehn… Ich benehme mich wie eine dumme Kuh, oder?! Du wirst mich wieder auslachen! Wie du damals beim Schulkarneval über mich gelacht hast!«

»Warum erinnerst du mich daran?!«

Kris öffnet die Luke, setzt das Mädchen in die Raumkapsel, betätigt einen Schalter; sie wird in die Atmosphäre geschossen. Eine fürchterliche Musik erklingt, die dem Puls derer ähnelt, deren Herzen noch nie im Takt des Gebets geschlagen haben. Verwaschene Gestalten tauchen auf. Sie begeben sich vor Kris auf die Knie und betrachten ihn in schierer Begeisterung. Plötzlich wird alles von einem hellen Lichtblitz erhellt. Das ist Hari, die in der Atmosphäre verglüht. Kris bedeckt seine Augen mit den Händen.

»Wie sehr mir die Augen schmerzen! Ich kann nichts mehr sehen!«

»Hattest du Gäste?« — Snaut war aufgetaucht. »Die hast du dir ja ordentlich zur Brust genommen. Deine Augen werden mit der Zeit wieder sehen können. Ich kann die Natur dieses Lichts immer noch nicht begreifen… es hat die höchste Sättigungsstufe. Wer war das, Kris?«

»Meine Klassenkameradin Hari; alle haben sie damals ausgelacht. Ein absurdes Kleidchen, eine absurde Brille! Beim Schulkarneval habe ich mich über ihre Brille lustig gemacht. Alle waren belustigt. Nur ich allein habe später bemerkt, dass sie den Raum verlassen hat. Mein Herz machte einen Sprung, aber ich — ein Anführer — konnte mich doch nicht um dieses Froschkind kümmern! Und dann… dann teilte die Polizei mit, dass unweit der Schule der leblose Körper eines unter ein Auto geratenen Mädchens gefunden wurde… Mir geht es gut!«, schreit Kris hysterisch. »Ich habe mir zehn Jahre lang eingeredet, dass ich kein Mörder bin! Aber der Lichtblitz heute draußen hat mir gezeigt, dass ich bis zum heutigen Tage auf diesem Schulkarneval lebe!«

»Kris… sie wird wiederkommen. Denn in der Tiefe deines Herzens wünschst du dir das.«

»Ich?! Ich soll mir dieses Seelenleid wünschen?! Diese Hölle?! … Und wer besucht dich, Snaut?«

Musik ertönt – eine zarte Stimme singt den Text: »Verschiedene Lieder gibt es bei den Leuten, meins aber bleibt das eine für ewig. Mein helles Sternchen, wie weit weg von mir bist du«. Kinder treten auf. Von oben fällt Spielzeug herab. Snaut weint, hebt die Spielsachen vom Boden auf, reicht sie den Kindern, zittert. Die Kinder nehmen die Spielsachen. Verschwinden hinter die Bühne. Von dort werfen sie die Spielsachen nach Snaut – in sein Gesicht. Snaut heult.

»Was ist das?!«, ruft Kris.

»Das ist das, was sein musste«, weint Snaut. »Nun bleibt mir nur, an den Blumen zu riechen!«

»Ist dieser Satz klar?«, fragt der Mönch. »Was war das? Das ist das, was sein musste. Die, welche hätten geboren werden sollen. Warum sind sie nicht geboren worden? Das ist ja die Frage – an Snaut… Was will die Kirche sagen? Die Kunst liefert keine direkten Antworten. Wenn er… Snaut wollte kein Kind… Den Jugendlichen müsste das verständlich sein… Und dann… Hari… Wissen Sie, wie ›Hari‹ übersetzt wird? ›Gottes Gnade‹. Wenn sie jemandem erscheint, dann ruft sie einen nur zu einer Sache: zur Liebe. Sie spricht ständig von der Liebe. So oder so, auf verschiedene Weisen. Er konnte und konnte das aber nicht vernehmen! Solaris zeigt uns nicht Gott, wenn wir schon davon reden. Solaris ist ein Tempel. Und wenn wir uns dem Altar, der Gnade nähern, dann wird in uns unser Gewissen wach. Das Gewissen veranlasst den Menschen dazu, seine Schuld zu bekennen. Hari veranlasst Kris dazu, seine Schuld auszusprechen. Warum habe ich – ein Mönch – mich so in diese Sachen vertieft? Ganz einfach, weil es hier eine Menge an christlichen Motiven gibt. Wenn jemand in unserer Nähe verweilt, soll er sich viel mehr als ein Mensch fühlen, als er es in Wahrheit ist. Die Welt geht rücksichtslos mit dem Menschen um, wie mit einem Tier. Wenn wir miteinander in Liebe kommunizieren, müssen wir einander daran erinnern, dass wir Menschen sind! Das ist auch das Prinzip der Liebe, wenn ich mich in der Gesellschaft eines Menschen als Mensch fühle. Hari erschien Kris, um aus ihm einen Menschen zu machen.

Kris nimmt ein Fläschchen mit Gift aus dem Schrank. Schläft mit diesem Fläschchen in der Hand ein. Hari taucht auf. Nähert sich ihm, nimmt ihm das Fläschchen aus der Hand.

»Hari, bist du das?«, sagt Kris beim Erwachen. »Wieso bin ich im Traum ganz anders als im richtigen Leben? Ich will ein Ganzes werden.«

»Ich lebe. Das bedeutet, dass auch deine Vergangenheit lebt. Deine Kindheit lebt. Deine Jugend. Such dir selbst aus, wer du sein willst.«

»Dich habe ich ein einziges Mal umgebracht, mich selbst aber bringe ich bereits im Verlauf von zehn Jahren um. Du bist gekommen, meine Qualen zu erneuern. Dein Licht erinnert mich an meine Niedertracht.«

»Das Licht blendet die Augen nur zu Beginn. Später wirst du es ganz anders wahrnehmen. Verlasse mich nur nicht. Ich muss immer bei dir sein.«

»Ich werde mich nicht mehr fürchten! Ich schwöre es dir!«

Es klopft an der Tür. Kris versteckt Hari im Schrank. Hari sträubt sich.

»Er sagt: ›Ich werde mich nicht mehr fürchten‹ und wird gleich darauf von der Furcht übermannt«, sagt der Mönch. »Es ist dem Menschen peinlich, seine Seele bloßzulegen. Ein Phantom aber kommt aus der Seele. Es ist das Gewissen. Man braucht Mut, um seine Seele vor anderen bloßzulegen.«

»Guten Morgen, Kris!« — Snaut kommt herein. »Sartorius erwartet dich bereits in der Bibliothek. Übrigens kann man das Phantom nicht töten. Ich habe es versucht« — er zeigt seine verbundenen Hände. »Diese Ungeheuer sind dazu auch noch äußerst friedliebend...«

»Warum bezeichnest du sie denn dann als Ungeheuer?«

»Bist du, Kris, einmal nackt unter Menschen herumgelaufen? Und nun stelle dir einen Zustand vor, in dem du nicht deinen Körper, sondern deine Seele entkleidest...«

Snaut geht weg. Kris öffnet die Schranktür.

»Kris, für dich bin ich ein Ungeheuer!«, weint Hari. »Du würdest mich gern umbringen!«

Kris sperrt sie wieder im Schrank ein. Sie klopft, schlägt von innen gegen die Schranktür: »Ich muss bei dir sein! Ich muss immer bei dir sein«. Kris geht weg. Er taucht in der Bibliothek wieder auf. Hari bricht die Tür auf.

»Ich sehe, Sie haben kein so schlechtes Exemplar«, wendet sich Doktor Sartorius an Kris. »Und ich sehe, dass Sie mit ihm einen emotionalen Kontakt aufgebaut haben. Ich schlage vor, dass Sie den Annihilator benutzen; er wird das Phantom töten.«

»Aber… sie ist doch ein Mensch«, versucht Kris schwach eine Entgegnung.

»Wa-as?! Was haben Sie gesagt? Junger Mann, ich warne Sie, Sie und Ihr Vater können Probleme bekommen!«

»Was ist für euch denn ein Mensch?«, sagt Hari, die dazugekommen war. »Ich möchte leben und schaffen. Ich liebe! Ich bin ein Mensch!«

»Sie? Sie sind nichts als die Fotokopie eines Menschen! Sie werden nie erfahren, was der Tod ist, folglich ist es Ihnen auch nicht gegeben, am Leben teilzuhaben.«

»Dann ist Doktor Gibarian, der den Tod wählte, jetzt viel mehr ein Mensch, als ihr es seid!«, ruft Hari. »Ihr lebt für den Tod! Aber der Mensch ist nicht für den Tod geschaffen! Mag ich eine Fotokopie sein, aber an Kris‘ Seite werde ich zum Menschen!«

»Lassen Sie uns doch einmal Kris fragen, wie er sich zu Ihnen verhält.«

»Ich? Ich… Sie ist eine Kopie! Sie ist kein Mensch!«, antwortet Kris.

Hari läuft weg. Sartorius triumphiert.

»Wahrlich ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen«, sagt der Mönch. »Kris hat sie verraten. Er hat die Wahrheit gesagt. Eigentlich hat er nämlich nicht gelogen. Hari ist eine Fotokopie. Aber er hat die Idee in sich, er hat seinen Glauben betrogen – er hat sich verraten. Er sagte: ›Ich verlasse dich nicht‹, aber er hat sie verworfen…« Und da beginnt der Schwanentanz.

Der Mönch pflanzt sich seine Skufja auf den Kopf. Indem er die Worte aussprach, die Christus dem Apostel sagte, hört er auf, Kind zu sein und verwandelt sich in den Abt. In strengem Ton teilt er mit, dass das Skript noch nicht vollendet ist, das sei nur sein erster Teil gewesen. Er geht hinaus in die feuchte Nacht. Die dumpfen Tore schwenken wie auf Kommando vor ihm auf und verschlucken ihn.

Um sieben Uhr morgens klappert der Kastenbus durch die Menschenleere des Ural. Am Steuer sitzt einer von den Brüdern. An den Fenstern schwingen die Spitzenvorhänge. Der Passagierraum ist voller Kinder. Das kleinste schläft in den Armen seiner Mutter, einer Frau mit grobschlächtigem, dunkel gewordenem Gesicht, das deutlich erkennbar die Spuren einer depressiven Jugendzeit trägt. Neben ihr sitzen weitere drei ihrer schlohblonden Kinder. Ganz hinten sind wieder die Jugendlichen, die ohne zu fragen in den Bus gestürmt sind, als dieser an einer der Haltestellen hielt. Nastjenka – so nennt Vater Pjotr sie – mustert sie mit strafendem Blick. Der Bus poltert ins Dorf Merkuschino, wo sich die Skite eines Nonnenklosters befindet.

Im Dorf wird der Kastenbus von einer weißen Kirche begrüßt, der Königin aller Dorfhäuser, die windschief, eingesunken und schwarz geworden sind. Im Jahre 1918 lebte in Merkuschino der Priester Konstantin, einundzwanzig Jahre alt. Einmal veranstalteten die Bauern hier einen Aufstand, und die Bolschewiken beschlossen, das Dorf dafür zu bestrafen; dazu suchten sie sich ein Opfer, und zwar Konstantin. Er lief auf genau dem Weg, den jetzt der Kastenbus entlangpoltert, zu seiner Erschießung, und sang dabei laut seine eigene Aussegnung: »Gewähre, Herr, Frieden der Seele Deines Knechts Konstantin«. Seine Gebeine befinden sich in der Kirche. Kaum, dass sie die Kirche betreten haben, treten die Jugendlichen an den Reliquienschrein heran und schauen neugierig durch das Glas. Durch das Glas hindurch sieht man die krumm und dunkel gewordenen, bis auf die Größe von Kinderhänden geschrumpften Hände Konstantins.

Nach dem Gottesdienst klart der Himmel auf. Und nach dem Essen springt der Kastenbus wieder an und hüpft seinen Weg zurück, über die im Sonnenlicht fröhlich werdenden Hügel. Plötzlich gibt es einen Knall. Eine dichte weiße Qualmwolke erfüllt den Bus. Die Kinder schreien auf, beginnen zu weinen.

»Ich reiße euch gleich eure Hände aus!«, ruft Nastjenka und springt auf. »Haut alle ab von hier! Was habe ich euch gesagt?!«

Der Kastenbus hält. Seine Türen öffnen sich. Auf die grüne Wiese ergießt sich die Qualmwolke und – eines nach dem anderen – die Kinder. Die Jugendlichen verlassen zuletzt den Bus, mit gesenkten Häuptern. Der Mönch betritt den Passagierraum. Bringt einen Feuerlöscher mit heraus.

»Na was, hat‘s euch so sehr in den Fingern gejuckt?«, schreit die Frau die Jugendlichen an.

Mit vollkommen ungetrübtem Gesichtsausdruck setzt sich der Mönch auf die Wiese, lässt einen Strahl weißen Pulvers aus dem Feuerlöscher hervorquellen und schraubt ihn wieder zu. Kehrt auf den Fahrersitz zurück, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Der Kastenbus setzt sich wieder in Bewegung. Im Fenster treiben grüne Hügel, geheimnisvolle Wälder und der weite Himmel vorüber, Regen spritzt gegen das Fensterglas. Mitunter sieht man an den menschenleeren Wegesrändern Figuren von Heiligen aus Pappe. Die hat Vater Pjotr hier aufgestellt. Sie blitzen kurz auf und verschwinden, als der Bus scheppernd an ihnen vorüberfährt, und von ihnen bleiben nur helle Lichtblitze auf der Netzhaut zurück.

Der Mönch läuft einen grauen Pfad entlang. In der Hand hält er eine schwarze, geflochtene Gebetsschnur. An den Seiten stehen hinfällige Häuschen. Egal, was der Mönch tut, wohin auch immer er geht, sein Herz verrichtet immerfort das Werk des Gebets, es schlägt ohne Unterlass im Takt: »Herr, Jesus Christus, ich liebe Dich«. Den Hesychasmus – die Praxis des Herzensgebets – haben die Brüder, die hier nach den Vorschriften des Athos leben, bestens verinnerlicht. Hinter einem lückenhaften Zaun befindet sich die eingeschossige, aus Holzbalken erbaute Schule mit den hellblauen Ziertafeln. Der Mönch betritt den Hof, schreitet vorsichtig über die Schwelle, auf der ein verirrtes kleines Fröschlein sitzt, das hier Unterschlupf vor dem Regenguss gefunden hat.

Er schreitet den Schulkorridor entlang. Bleibt am Kachelofen stehen, legt seine Handflächen daran und geht innerlich auf die Knie. Der Direktor – ein sehr junger Mann, einer der Erwachsenen, die bei der nächtlichen Liturgie zugegen waren – betritt den Korridor.

»Man muss sie einfach beim Schlafittchen packen«, sagt der Mönch gedämpft, als er sich zu einer vertrauten Unterhaltung zum Direktor beugt. »Man darf den Beamten nie in irgend etwas nachgeben. Für jede Antwort, die sie geben, verlange unbedingt ein Schriftstück!«

»Sie waren hier und haben gesagt: ›Welch ein Elend ist doch diese eure Schule!‹«, bemerkt der Direktor gekränkt.

»Genau, erst bewilligen sie die Mittel für eine Instandsetzung nicht, lassen sie bis zu einem solchen Zustand verkommen, und dann… Nein-nein, die Schule muss gerettet werden, denn sonst stirbt das Dorf. Ich war im vergangenen Jahr bei ihnen, bei der Verwaltung für Bildung im Rajon Werchoturje. Ich sagte: Ich habe zwei Jungs, beides Armeeleute, aber sie haben ein pädagogisches Studium absolviert. ›Wunderbar!‹, sagten sie da. ›Wir brauchen gerade solche!‹. Ich habe sie also um zwei Stellen gebeten. ›Geben wir Ihnen. Rufen Sie in einer Woche an‹. Eine Woche später waren wir wieder da. ›Kommen Sie im Januar wieder. Wir haben die Budgetplanung bereits abgeschlossen‹. Nun ja, werde ich sie eben selbst bezahlen...“

»Aber es braucht Mittel für die Spritkosten, für den Bus«, wirft der Direktor ein. »Die müssen die uns von Rechts wegen geben. Doch egal, wie sehr ich auch darum bitte – ich bekomme nichts. Es kann doch nicht sein, dass die Mönche die Kinder immerzu fahren.«

»Das nun ist wirklich Nonsens!«, bestätigt ihm der Mönch.

Er geht hinaus auf die Straße. Wolken ziehen am Himmel entlang. Er hebt den Kopf und hält dabei seine Skufja fest.

»Man betrachtet sich so die Wolken«, sagt Vater Pjotr, »und unter ihnen gibt es niedrige und ferne. Sie treiben in verschiedenen Richtungen. So ist‘s auch mit dem Denken des Menschen – der eine Gedanke geht in die eine, der andere in eine andere Richtung. Deshalb fragt Kris die Hari: Warum bin ich im Traum der eine, und wenn ich wach geworden bin ganz anders… Oder diese Halbwüchsigen – diese hässlichen Entlein. Es hat mich sehr bestürzt, was sie mit dem Feuerlöscher gemacht haben; und wiederum begreife ich es nicht, was sie dazu veranlasst hat, so früh aufzustehen und zum Gottesdienst zu kommen. Wissen Sie, unsere Aufgabe – das heißt, sowohl die der Kirche als auch die der Pädagogik – ist es, all die Wolken im Menschen in ein und dieselbe Richtung zu leiten. Es ist sehr schwer, diese inneren Wolken umzulenken. Der Mensch wird aber geistlich geboren, wenn genau das in ihm passiert. Dazu ist dem Kris auch die Hari erschienen – um aus ihm einen Menschen zu machen«.



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