01.
Okt
2018

12
min

Von der Kunst des Diakons

"Von der Kunst des Diakons" ist eine Kurzgeschichte von Alexander Djatschenko, eines russischen Priesters und Schriftstellers.

Dass ich eine Bassstimme hätte und bei guter Stimmbildung auch gute Perspektiven damit, erzählte mir noch zu Schulzeiten einer meiner Gefährten. Einmal krächzte ich, auf seine Bitte hin, etwas in den Telefonhörer, und zur Antwort hörte ich seine begeisterten Rufe:

»Du solltest am Konservatorium studieren, Schura, wirklich! In solchen Sachen irre ich mich nicht!«

Ich hatte eigentlich keine allzu hohe Meinung von den musikalischen Talenten meines Klassenkameraden; ich glaubte ihm nicht, doch hätte ich das vielleicht besser tun sollen: Heute ist der Freund meiner Kindheitstage einer der bekannteren belorussischen Musikproduzenten, besitzt ein Tonstudio und bereist mit einer Reihe an Gruppen die ganze Welt. Hätte ich meinem Freund damals Glauben geschenkt, wäre ich jetzt womöglich Solist am Bolschoj-Theater…

Als ich damit begann, Gottesdienste zu besuchen, sang ich, in der Nähe des Kirchenchors stehend, leise mit. Ich dachte, mich kann niemand hören. Doch weit gefehlt – in einer Kirche hört man jeden Gesang, der nicht zum Chor gehört, ziemlich deutlich. Ich wurde ertappt, aber anstelle dessen, dass ich bestraft wurde, bekam ich eine Einladung zum Mitsingen im Kirchenchor.

An dieser Stelle bereute ich es, dass ich nicht auf meine Mutter gehört habe, die mich, den nichtsnutzigen Zweitklässler, damals mit allen Mitteln dazu bewegen wollte, das Klavierspielen zu erlernen. Ich lehnte nämlich all ihre Versuche kategorisch ab:

»Panzersoldaten müssen nicht Klavier spielen können!«

»Nun gut«, sagte mein Vater schließlich, als er unserer ganzen Streitereien überdrüssig war. Er war nämlich Panzersoldat, und zwar mit echter Gefechtserfahrung. »Wenn er nicht will, quäle den Jungen doch nicht!«

Nach Marias Tod bekam ich, zum Gedenken an sie, eine Papierikone mit der heiligen Maria von Ägypten, in einem groben, mithilfe einer Axt hergestellten Beschlag, noch aus den früheren Jahren in den schrecklichen sibirischen Gefangenenlagern. Sie war eine Meisterin mit der Axt. Das begriff ich, als ich dabei half, die Ikonostase für ein Nonnenkloster aufzubauen, welches sie allein wieder zum Leben erwecken wollte.

Später versuchte man noch, mich beim rechten Kirchenchor einzusetzen, aber das Fehlen der notwendigen musikalischen Fertigkeiten gestattete es mir nicht, mich gehörig in die Reihen des Partes-Gesangs¹ einbringen.

Dann kam eine jüngere Generation aus Absolventinnen von Kirchenmusiklehrgängen der Diözese zu uns in den Kirchenchor. Gute Mädels, man könnte sogar sagen: aufopfernde. Unser zweiter Priester, Vater Nifont, bekam den Segen, zu den Feiertagen in einer der weiter entlegenen Dorfkirchen zu zelebrieren. Der Batjuschka quetschte uns in seinen kleinen »Schiguli«, und nach dem Gottesdienst in unserer Kirche eilten wir in jenes kleine Kirchlein. Ich kann mich daran erinnern, dass einmal zu Pfingsten außer dem Fahrer noch acht Leute in dem Auto mitfuhren. Wenn ihr nur wüsstet, wie gnadenreich es war, mit dem Vater Abt zu fahren! Das Jesusgebet lief wie von allein. Als unverbesserlicher Choleriker raste der Batjuschka, sobald er am Steuer saß, als sei es sein letztes Mal, verlangte dem Fahrzeug alles ab, wozu es fähig war.

Ich sang weiterhin mit meinem Bass, aber nur die Alt-Partie, da es mir einfach am Geschick mangelte, die Bassstimme zu singen. Jetzt weiß ich, wie schwer man es mit mir gehabt haben muss, doch die Chormädchen ertrugen es, wie vorher schon die Großmütterchen. Ich aber war der überzeugt davon, dass je tiefer es mir zu grummeln gelang und je mehr mein Grummeln einem buddhistischen Kehlgesang ähnelte, desto besser. Wie begeistert ich war, als der Protodiakon in der Kathedrale zu Grodno das Polychronion anstimmte und dabei die Fensterscheiben erbebten! Wie ich davon träumte, solche Höhen der Gesangskunst zu erreichen!

Womöglich hätte ich mein ganzes Leben lang glücklich im Kirchenchor meiner Heimatkirche gesungen, wäre da nicht der Zufall in Person meines Bekannten namens Nikolaj dazwischengekommen. Kolja ist, wie man zu sagen pflegt, durch die harte Schule des Lebens gegangen und hatte mit seinen fünfundzwanzig Jahren bereits Zeiten in Gefängnissen verbracht, doch Gott ist gnädig, und so kam mein Bekannter in die Kirche. Und nicht genug damit, dass er einfach nur in die Kirche kam, er begann auch noch zu arbeiten. In seinem Kopf wurden unentwegt Ideen für irgendwelche frommen Projekte geboren. Mal dachte er sich, eine Kapelle zu Ehren des Vaters einer damals noch nicht verherrlichten Heiligen zu bauen, mal beschloss er, eine orthodoxe Zeitung herauszugeben. Doch all seine Initiativen waren, wie ich dann später schon begriff, so oder so mit der Sammlung von Geldmitteln für gute Zwecke verbunden. Erst gingen bei ihm von allen Seiten unseres Vaterlandes Spenden für den Bau der Kapelle ein, eine Kapelle ist aber letztlich nicht daraus entstanden. Mit der Zeitung lief es ähnlich, obwohl es ihm hier doch gelang, ein paar Ausgaben zu drucken.

Das Geld, das er für fromme Sachen sammelte, welches aber oft für andere Zwecke ausgegeben wurde, begann, die Seele meines Freundes wie ein Holzwurm zu zerfressen. Dabei bin ich trotzdem davon überzeugt, dass seine Wünsche aufrichtig gewesen sind. Kolja begann zu trinken und verfiel diesem Verderbnis ziemlich schnell.

Zu der Zeit beschloss er, die Autorität seiner Zeitung dadurch zu steigern, dass er sich den Segen des amtierenden Bischofs für dieses Werk einholte. Und er bot mir, als jemandem, der ihm bei der Herausgabe des Periodikums half, an, mit ihm gemeinsam in die Metropolie zu fahren. Ich war damit einverstanden, und so fuhren wir los. Unterwegs prahlte Kolja damit, dass er jeden in der Diözesanleitung kenne und es für ihn ein Leichtes sei, den Segen zu bekommen.

Als wir durch die Straßen der Kreisstadt schritten, erzählte mir Nikolaj aufgeregt irgend etwas, blieb aber abrupt an einer Verkaufsbude stehen. Er entschuldigte sich und kaufte eine Flasche Bier, die er auch sofort in einem Zug aus dem Flaschenhals leerte, ohne dabei auch nur einmal abzusetzen.

»Was tust du da?!«, fragte ich ihn. »Wie sollen wir jetzt bei der Diözesanleitung aufkreuzen? Deine Fahne riecht man eine halbe Meile gegen den Wind!«

Er lächelte:

»Ist nicht schlimm, wir kommen durch!«, und klopfte mir dabei herablassend auf die Schulter.

Wir legten weitere zweihundert Meter zurück. Mein Begleiter fiel unauffällig hinter mir zurück, kaufte abermals eine Flasche Bier und leerte diese ganz genau so wie die erste, von meinen Protesten völlig unbeeindruckt, in sich hinein. Anfangs noch grinste er einfach nur dämlich, beachtete mich gar nicht, dann aber verschwand er einfach. Langer Rede kurzer Sinn, ich stand schließlich allein vor den Toren der Diözesanleitung.

Was sollte ich tun? Um den Segen für eine Zeitung bitten, die ich gar nicht herausgab, oder unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren? »Gut«, dachte ich bei mir, »ich gehe mal rein, denn für irgend etwas bin ich ja schließlich hergekommen!« Ich betrat die Diözesanleitung und bat darum, dass man mich zum Vater Sekretär brachte, dessen Freundschaft sich der unglückselige Nikolaj unterwegs so sehr gerühmt hatte.

Der Batjuschka war da, und er konnte sich tatsächlich an meinen verirrten Freund erinnern. Wir tauschten uns kurz über Kolja aus, und dann bemerkte er:

»Um eine orthodoxe Zeitung herauszugeben, muss man allerhand wissen, und vor allen Dingen muss man die Orthodoxie selbst kennen. Dein Kumpel ist ein ehemaliger Straftäter, und was genau stellst du eigentlich dar?«

Als er erfuhr, dass ich bereits im letzten Studienjahr an der Orthodoxen Theologischen Sankt-Tichon-Universität studiere und einige Jahre lang im Kirchenchor sang, änderte sich seine Haltung mir gegenüber. Er hieß mich in seinem Kabinett warten, selbst aber ging er irgendwohin hinaus. Dann kam er zurück, nahm mich bei der Hand und führte mich, wie sich gleich herausstellen sollte, zum Vladyka selbst.

Der Kirchenfürst empfing mich sehr freundlich. Nachdem er sich eine Zeitlang mit mir unterhalten hatte – wobei er sich nicht besonders für meine eigenen Pläne für die Zukunft interessierte – stellte er mich den anderen in dem Kabinett Sitzenden folgendermaßen vor:

»Väter, da habt ihr einen fertigen Diakon – sowohl mit Ausbildung, als auch mit Erfahrung im Gehorsam des Chorgesangs! Einfach wunderbar. Mach dich also zur Weihe bereit, mein Guter!«

Das kam wie der Blitz aus heiterem Himmel… Ich kam, um das Eine zu erledigen, und es ergab sich etwas vollkommen Anderes.

Aber leicht gesagt – mach dich bereit! Denn jetzt musste ich mir ja in allerkürzester Zeit die Weisheit der diakonischen Künste aneignen! Vor meinem inneren Auge erschien der Protodiakon in Grodno und die Fensterscheiben der Kathedrale, die von seiner mächtigen Stimme erbebten.

Andere Beispiele für das Werk eines Diakons hatte ich praktisch nicht in meiner Erinnerung.

''Der Diakon'' von Andrei Petrowitsch Rjabuschkin

Ich ging also zu Vater Nifont:

»Batjuschka, mir wurde gesagt, ich soll mich auf die Weihe vorbereiten, aber einen Lehrmeister habe ich nicht. Vielleicht wollen Sie mich anhören und mir etwas raten?«

Der Vater Abt wurde lebendig und beschloss wohl, mich gleich hier vor Ort und unverzüglich auf die Probe zu stellen.

»So, so«, machte er und bewegte sich im Kreise; »Intoniere doch einmal die erste Fürbitte der kleinen Litanei!«

Ich nahm eine Brust voll Luft und intonierte in gewissenhaftem Bass:

»Wieder und wieder...«

Der Batjuschka schaute mich, wie mir schien, entweder mit Schreck oder mit Erstaunen in seinen Augen an. Dann, nachdem er wohl wieder Herr seiner Gedanken geworden war, rieb er ganz schnell seine Hände, hob seinen rechten Zeigefinger und formulierte tiefsinnig:

»Du musst das trainieren!«

Eine klare Sache, dass es zu Hause nicht gut von der Hand ging, Bassrezitationen zu intonieren, deshalb musste ich überwiegend auf Arbeit »trainieren«. Besonders gut ging das nachts, wenn alle schliefen und keine überflüssigen Leute über den Ablaufberg rannten. Wenn ich allein an meinem Arbeitsplatz blieb, konnte ich vollkommen unbehelligt üben. Allein der Uhu im Wald war Zeuge meiner Exerzitien.

Unser Ablaufberg wurde mithilfe besonderer Vorrichtungen aufgeschwemmt, weshalb sich um ihn herum, soweit das Auge reichte, ein riesiger Sumpf gebildet hatte. Die Bäume waren überwiegend abgestorben, an einigen Stellen aber standen sie noch. Auf einen dieser hohen Stämme einer abgestorbenen Birke kam immer wieder ein großer Walduhu geflogen. Er setzte sich oben drauf und verharrte lange Zeit dort, und ließ sich auch nicht durch den Umgebungslärm und das gleißende Licht der Scheinwerfer stören. Mit der Zeit gewöhnte sich alle an ihn, man gab ihm sogar den Spitznamen »Waldohr«. Mitunter setzte er in seine »Uhu«-Laute ein. Und obwohl alle wussten, dass es unser Waldohr ist, von dem diese Laute ausgestoßen wurden, wurde einem dabei immer irgendwie schwummrig.

Von einem der Zugführer hörte ich einmal, dass man vom Ablaufberg munkelte, es sei ein verwunschener, oder wenigstens unruhiger Ort.

»Man sagt, man hört des nachts dort bei euch irgendwelche unverständlichen Laute, und von diesen Lauten wird den Leuten ganz schaurig zumute.«

»Das ist doch unser Uhu, der ist es, der so schreit«, beruhigte ich den Kollegen. »Nichts schlimmes, der ist ganz zärtlich.« Gleichzeitig war es dann aber doch so, dass ich mich nach diesem Gespräch mit meinem Freund immer, wenn ich Nachtschicht hatte, öfter und öfter unwillkürlich umdrehte, und wenn ich allein auf dem Ablaufberg verblieb, beantwortete ich jedes undefinierbare Geräusch wie aus Versehen mit der Rezitation des 90. Psalms.

Dieses mein Verhalten begann, mich regelrecht zu ärgern. »Fünf Minuten vor Diakon«, geißelte ich mich selbst, »und verfällst in irgendwelchen primitiven Aberglauben!« Und gleichzeitig starrte ich angestrengt in Richtung der uns umgebenden, unpassierbaren Sümpfe.

Einmal – es war wie üblich in der Nacht – ging ich wieder daran, das Intonieren von Litaneien zu trainieren, und begann wieder mit dem bereits gewohnten »Wieder und wieder...«. Draußen war es dunkel und still, es gab einen leichten Frost, der aber ganz und gar nicht stachelte. Zum Warmwerden versuchte ich meine Stimme in unserer Heizungsbude. Jedes mal, wenn Waggons vorüberfuhren, klirrten die Fensterscheiben. Eingedenk des Protodiakons aus der Kathedrale in Grodno bemaß ich die rechte diakonische Kunst an seiner Fähigkeit, die Fensterscheiben zum Klirren zu bringen. Selbstverständlich ist eine kleine Bude nicht mit einer riesigen Kathedrale zu vergleichen, aber, das müssen Sie schon entschuldigen, ich bin ja auch kein Protodiakon!

Ein jedes Mal, wenn ich mich einsang, lauschte ich hoffnungsvoll, ob sich nicht die Fensterscheiben meldeten, aber es war nicht so einfach, in vollem Bass zu singen und gleichzeitig auf Geräusche aus anderen Quellen zu achten. Es wäre natürlich gut gewesen, jemanden von unseren Jungs mit beizuziehen, der dann auf den Zustand der Fenster achtgab, aber das war mir nicht angenehm – ich fürchtete, zum Ziel von Spötteleien zu werden.

Ohne das Licht anzumachen, erhob ich mich von der Bank und trompetete einen liturgischen Ausruf. Urplötzlich ertönte direkt neben der Bude ein Quieken und darauf ein Geräusch, wie wenn etwas Schweres auf den Asphalt fällt. Das Quieken ging dann, so schien es mir, zu einem regelrechten Ferkelgrunzen über, dazu kamen die Laute eines sich schnell entfernenden Hufgetrappels. Es war Winter, aber der Bereich um unsere Bude herum wurde bis hinunter auf den Asphalt beräumt, und das Getrappel von Schweinehufen kann ich immer todsicher als solches erkennen.

In diesem Augenblick erinnerte ich mich an die Warnung des Zugführers. Da war es, es ging los! Eine unreine Macht… Sofort bemächtigten sich die wer weiß aus welchen Tiefen meines Gedächtnisses aufgetauchten, von Gogol beschriebenen kauenden Schweineschnauzen, Wij mit den Ghulen und der rote Rock meines Verstandes… Und wie sollten diese Dinge auch nicht auftauchen, wo hier doch ein Mensch im Begriff war, sich auf ein geistliches Amt vorzubereiten!

Der Feind umkreist einen jeden von uns, und um einen, der morgen schon Diakon werden will, ist es sicher ein ganzer Reigen an Feinden! Aber der Ausruf hatte sie das Fürchten gelehrt! Um ehrlich zu sein, fürchtete ich mich in diesem Augenblick auch...

In diesem Moment wurde mir klar, was es bedeutet, dass einem »die Haare zu Berge stehen«. Mich vollkommen vergessend fand ich mich im nächsten Augenblick auf dem Tisch wieder, und fast schon in Embryonalhaltung ging ich daran, laut das Gebet »Gott möge aufstehen und Seine Feinde sich zerstreuen...« zu rezitieren. Wie nützlich es doch manchmal ist, solche Gebete zu kennen!

Ich lauschte. Draußen war es wieder totenstill, und ich beschloss, die Bude vorsichtig zu verlassen, um den Reißaus nehmenden Dämonen hinterherzublicken.

Ich kletterte ganz leise vom Tisch herunter, begab mich auf Zehenspitzen zur Tür und schob diese vorsichtig, damit sie nur ja nicht knarren möge, auf. Ebenso schleichend begab ich mich nach draußen, und da schlug mir das fürchterliche, markerschütternde »Buhu!« des Uhus in den Rücken.

»Du bist noch da, Waldohr!«, rief ich vor Ärger laut. »Sei still, es ist auch ohne dich schon übel! Käme doch endlich jemand von den Jungs...«

Ich ging daran, nach irgendwelchen Spuren zu suchen, aber es war alles sauber, es waren keinerlei Hufabdrücke auszumachen. Was sind denn das für Sachen… Gut, dachte ich bei mir, ich werde niemandem davon erzählen, aber besser ist es, wenn ich in der kommenden Nacht den Bereich um die Bude herum mit Weihwasser besprenge.

Ungefähr zwei Wochen später kam ich mit einer anderen Schicht in die Ablaufgleisgruppe. Als ich dabei während der Arbeitszeit in die Aufwärmbude ging, um etwas heißen Tee zu trinken, war außer dem diensthabenden Wachmann, der auf der Pritsche lag, niemand in dem Raum. Als er hörte, dass ich vom Ablaufberg bin, erhob er sich in eine sitzende Haltung und fragte gleich mit sichtbarem Interesse:

»Vom Ablaufberg? So ist das also...«

»Was ist denn Besonderes daran?«, fragte ich ihn.

Der Wachmann rückte mit verschwörerischer Miene näher an mich heran:

»Einen ganz ü-ü-üblen Ort habt ihr da!«. Dabei betonte er das Wort »übel«, sprach es langsam, wie jeden Buchstaben einzeln.

Mein Herz erstarrte fast im Vorgeschmack eines sich gleich offenbarenden Geheimnisses.

»Wer sagt das denn?«

»Na ich sage dir das!« - Er stand vor Aufregung sogar auf. »Weißt du, vor ungefähr zwei Wochen habe ich Güterwaggons begleitet und war dann unterwegs zurück zu meinem Posten. Es war eine wunderbare Nacht, warm, kein Wind. Es gab fast keine Arbeit. Stille… Ich gehe so und denke mir meine Dinge, da plötzlich! Direkt neben eurer Bude schreit auf einmal jemand los! So fürchterlich, und ganz und gar unmenschlich. Von diesem Schrei erbebte mein gesamtes Inneres, ich begann zu zittern. Die Mannsbilder hatten mich ja früher schon gewarnt, nach dem Motto, dort auf dem Ablaufberg gehen seltsame Dinge vor sich. Vor Schreck rutschte ich aus und fiel hin. Ich versuchte zu schreien, aber die Angst schnürte meine Kehle zu; ich suchte auf allen Vieren das Weite. Und da schickte man mir noch ein höhnisches Gelächter hinterher, als rufe ein Uhu. Jedenfalls bin ich da nur mit Mühe und Not heil davongekommen! Erst, als schon alles vorbei wahr, erinnerte ich mich an meine Pistole. Aber als ob eine Pistole in so einer Situation etwas ausrichten kann! Da bräuchte es schon Silberkugeln...«

Als ich ihn so anhörte, ging es mir langsam auf, dass vor mir ein Opfer meiner diakonischen Künste sitzt, genau dieses »Ferkel«, das damals bei meiner Bude vor Schreck zu grunzen begann. Es sah also so aus, dass er es war, den ich mit Weihwasser fernzuhalten trachtete! Was hatten wir hier also? Ich gab mir Mühe, ich trainierte, ich probte, und im Endeffekt hatte ich damit jemanden fast zum Herzinfarkt gebracht, und üble Gerüchte gingen nun auch schon auf der Station herum. Gut, dass es Waldohr gibt – eine wortlose Kreatur; wenn es hart auf hart kommt, schieben wir alles ihr in die Schuhe.

Es war schon später, während der Zeit meines vierzigtägigen Praktikums, dass mir klar wurde: Weder in einer großen Kirche, noch im Altarraum, der von der übrigen Kirche komplett durch die Ikonostase abgeschirmt ist, kann man mich hören. Mein Bass ging in den Pelzmänteln der Gemeindemitglieder unter. Einer Eingebung folgend intonierte ich die Litaneien in einer immer höheren Stimmlage. Bei mir offenbarte sich ein Tenor, und gar kein schlechter. Mehr noch, zum Ende des vierzigtägigen Praktikums war ich fast schon dazu in der Lage, in ein Falsett zu wechseln.

Wiederum einige Zeit später beschäftigte mich die gleiche Frage von Neuem: Ist es möglich, dass ein Tenor die Fensterscheiben zum Vibrieren bringt? Es war schon klar, dass alles des Trainings bedurfte… Ich wollte schon damit beginnen, aber da gebot man mir, dass ich mich auf die Priesterweihe vorbereite. Für einen Priester aber ist es nicht so wichtig, ob die Fensterscheiben während seiner Predigt vibrieren oder nicht.


¹ Der Partes-Gesang ist ein Stil in der russischen und polnischen mehrstimmigen Kirchenchoral des 17.-18. Jh.



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