17.
Apr
2016

15
min

Väterchen Frost

"Väterchen Frost" ist eine Kurzgeschichte von Alexander Djatschenko, eines russischen Priesters und Schriftstellers.

Die frühen 1980er waren die Zeit, als ich, gerade erst aus dem Wehrdienst entlassen, hierher an diesen damals für mich neuen Ort kam. Alles um mich herum war mir damals noch unbekannt und erschien mir interessant. Eines Sonntags lief ich einen breiten Waldweg entlang; am Vortag hatte es geschneit, aber den Weg hatte man schon freigeräumt. Es war ein sehr schneereicher Winter, daher wurde der Weg von riesigen Schneehaufen flankiert.

Es war Morgen, die Sonne stand am klaren Himmel. Ich mag die Sonne, ich mag es, wenn das schwere, zum Erdboden niederdrückende Halbdunkel endlich verschwindet und die Sonne erscheint. Die Seele jauchzt, und ich gehe direkt auf die Sonne zu, um mich herum ein lichter Wald und glänzender Schnee.

Ich war vielleicht eine Sekunde lang abgelenkt und wusste so gar nicht, woher sie auf einmal erschienen waren: gerade waren sie noch nicht da, nun aber bewegte sich ein ganzer Reiterzug aus unwahrscheinlich schönen Pferden geradewegs auf mich zu. Ich bin in Sachen Pferderassen nicht sehr bewandert, aber dass ich hier reinrassige Achal-Tekkiner vor mir hatte, daran bestand gar kein Zweifel; selbst einer wie ich erkennt ohne weiters die typischen, schmalen Pferdeschnauzen, die graziösen Hälse und den an seinem Ursprung leicht gekrümmten Schweif.

Es waren ziemlich viele Reiter - gut ein Dutzend - und die Pferde liefen im Trab auf mich zu; ich hatte gar keine Möglichkeit, ihnen aus dem Weg und in Deckung zu gehen - die geradezu senkrecht zu beiden Seiten des Weges aufgetürmten Schneehaufen machten mich zur Geisel des Wohlwollens der Reiter. So blieb ich einfach auf der Mitte des Wegs stehen und betrachtete sie voller Bewunderung. Erinntert ihr euch, wie das bei Andersons häßlichem Entlein war - es sah die Schwäne und verließ sein Versteck mit dem Gedanken: lieber sollen mich diese wunderschönen Vögel tothacken, als dass ich so unansehnlich bleibe. Ganz genau so stand auch ich und schaute auf diese sich mir unabwendbar nähernde Lawine. Wenn ich schon sterben muss, dann lieber unter den Hufen dieser wunderschönen Wesen.

Die Reiter waren fast heran, ich konnte ihre Gesichter erkennen und begriff, dass sie alle Kinder von vielleicht zehn-zwölf Jahren waren. Sie lachten über meine konfuse Lage, winkten mir zu, die klugen Pferde aber bildeten zwei Reihen und flossen wie Wasser von beiden Seiten um mich herum. Ihre Hufe warfen Schnee auf - es war mir ein Rätsel, wie das passieren konnte, denn es schien mir, als flögen sie dahin, ohne der Boden zu berühren. Ich erstarrte wie verzaubert, und dann überkam mich der Wille, mich ebenso wie ein Kind zu freuen und ihnen zurückzuwinken. Wahrscheinlich hätte ich das getan, hätte ich nicht urplötzlich einen schmerzhaften Schlag mit einer Reitgerte auf meine Schulter empfangen.

Ich fiel vor Schreck fast hin, behielt aber die Balance und sah im letzten Augenblick, dass der letzte der Reiter - und der war ein erwachsener Mann - mit der Gerte in seiner Hand eine drohende Geste machte und mir etwas zurief.

Aber auch dieser Schlag - und er war gar nicht so stark - vermochte es nicht, mir meine gute Laune zu verderben, so dass ich, innerlich immer noch frohlockend, meinen Weg der Sonne entgegen fortsetzte.

Als ich am nächsten Tag auf Arbeit von meiner Begegnung im Wald berichtete, grinste mein Kollege:

"Das war Mark Fleginskich, der Trainer der Reitschule; der war es wohl, der dir diesen Streich mit seiner Reitgerte versetzt hat. Hat er auch richtig gemacht, was hältst du Maulaffen feil - Pferde können gefährlich werden. Und es war noch gut, dass du nicht herumgezappelt hast, denn wer weiß, wie sie sich verhalten hätten und was mit den Kindern hätte passieren können."

Später, als ich in der Umgegend spazieren ging, sah ich noch einmal die Kinder auf ihren Pferden. Dazu gab es bei uns noch in jedem Frühjahr Wettbewerbe von Reitern. Die Kinder zeigten ihre Fertigkeiten im Dressur- und Hindernisreiten. Aber aus irgendeinem Grund taten mir die Pferde immer leid. Es tat mir leid, dabei zuzusehen, wie sie mit ihren Läufen an die Balken schlugen, wie sich vor Anstrengung Schaum um ihre Mäuler bildete und die Venen am Bauch schwellen. Fleginskich bin ich nicht wieder begegnet, obwohl ich ihn ein paar Mal bei solchen Wettbewerben sah. Man sagte, dass er ein unheimlicher Pferdenarr war und zu Pferden ist wie zu Kindern, obwohl er ansonsten eine ziemlich raue Natur gewesen sein soll. Ich hörte, dass Pferdenarren in der Regel allesamt Raunaturen seien, aber ich weiß das nicht genau, denn ich hatte keine Bekannten unter diesem Schlag Menschen.

Anfang der 1990er hat man die Pferde dann, wie man sich in unserer Gegend ausdrückt, "eingerissen". Es begann die Zeit, in der die Menschen keine Zeit mehr für Schönheit hatten. Die einen verkaufte man, die anderen gab man einfach für einen Apfel und ein Ei ab, damit sie nicht beim Abdecker landeten. Die ehemaligen Zöglinge der Reitschule taten, was sie konnten, um die Tiere zu retten, aber viel konnten sie nicht tun. Nachdem die Reitschule liquidiert wurde, starb Fleginskich, obwohl er noch vergleichsweise jung war - er konnte es wohl nicht verwinden, was die Menschen den Pferden angetan hatten.

Damals ging ich schon in die Kirche, nahm aktiv am kirchlichen Leben teil, las bei den Gottesdiensten sogar aus dem Apostel. Und eines Tages sah ich im Traum die Reiter wieder. Genau die Reiter auf genau denselben Pferden vom sonnigen Januarmorgen des Jahres 198...

Sie ritten genauso wieder Trab, die Kinder lächelten von oben zu mir herab und hoben grüßend ihre Hände, und ganz genau wie damals bekam ich im Traum auch wieder einen Gertenhieb von Fleginskich. Er schlug mich und rief mir laut zu, rief etwas, das aber sichtlich mehr war, als das, was ich damals während der realen Begegnung hörte. Allein ich konnte nicht verstehen, was er da rief. Vielleicht bat er mich um Gebete für seinen Seelenfrieden? Wer weiß schon, ob überhaupt jemand für ihn betet. Sein Familienname ist in unseren Breiten eine Seltenheit, er klang für mich polnisch - wer weiß schon, wo seine Verwandten sind? Aber, so sagt man, wenn dir ein Mensch im Traum erscheint, dann bittet er dich um deine Gebete, so dass ich ihn kurzerhand in meine Gebetsregel aufnahm.

Ungeachtet der Instabilität waren die 1990er Jahre eine ganz ungewöhnliche Zeit, es haben sehr viele große Ereignisse darin Platz gefunden, und an all diesen Ereignissen war man kraft der Umstände wohl oder übel irgendwie beteiligt. Vor unseren Augen wurde Geschichte gemacht, und wir schufen sie gemeinsam mit allen anderen. Es mangelte ständig an freier Zeit. Damals habe ich parallel gearbeitet und studiert, dazu verschwanden wir ständig in der Kirche. Die Erinnerung an diese Jahre ist für mich positiv, denn wann immer ich mich an sie erinnere, bleibt ein Nachgeschmack der Hoffnung...

In dieser Zeit sind viele Leute Unternehmer geworden; dem einen gelang es, manch einer ging bankrott, und den einen oder anderen fand man überhaupt irgendwo tot, mit einer Kugel im Kopf, herumliegen. Es war auch in diesen Jahren, dass Marina sich ein kleines Geschäft aufbaute. Sie war von irgendwoher aus der Provinz nach Moskau gekommen, und ungeachtet dessen, dass die junge Frau ganz allein war - sie hatte keine Familie, nicht einmal bloß Verwandte - schaffte sie es, sich ein gewisses Startkapital zu erarbeiten. So kam sie fest auf eigenen Beinen zu stehen, legte ihr Geld vorteilhaft an und verdiente nun schon gutes Geld. Sie erwarb sich in Moskau eine Wohnung mitsamt aller notwendigen Einrichtung.

Einmal lernte Marina - ich weiß nicht mehr, wo das war: ob in einem Café oder bei irgendjemandem zu Gast - eine gebürtige Moskauerin kennen, die ungefähr ihres Alters war. Diese Moskauerin wurde, wenn sie in den Sommermonaten hinaus auf ihre Datsche auf dem Land fuhr, zu unserem Gemeindemitglied. Sie ist an sich eine interessante Persönlichkeit und, wie es unter Frauen nun einmal vorkommt, auch sehr gesprächig. Uns Gläubigen braucht man bloß einmal das Wort zu erteilen! Obwohl wir, zu unserer Rechtfertigung erwähnt, meistens zum für uns wichtigen Thema der Erlösung sprechen. Wir wollen also annehmen, dass auch das Gespräch zwischen diesen beiden Frauen zum Heil der Seele stattfand. Marina lernte unser Gemeindemitglied also kennen, notierte sich ihre Telefonnummer und versprach, alsbald anzurufen, um die Bekanntschaft fortzusetzen. Freilich waren zwei Jahre vergangen, als sie schließlich anrief. Sie vereinbarten sogleich ein Treffen.

Als die Frauen sich trafen, sah Marina abgemagert aus und war sichtlich gealtert.

"Ich wollte mich mit dir treffen", begann sie, "weil du der einzige gläubige Mensch unter all meinen zahlreichen Bekannten bist. Ich bin einsam, ich habe keine Verwandten, aber ich habe ein kleines Vermögen. Die Sache ist die, dass ich unheilbar krank bin. Meine Tage sind gezählt, aber es gibt niemanden, der mich anständig begraben würde. Schlage mir diese Bitte nicht aus, denn ich vertraue dir und mache dich zu meinem Testamentsvollstrecker. Hier" - mit diesen Worten griff sie in ihre Tasche und begann damit, Dollarbündel auf den Tisch zu legen - "ist mein ganzes Bargeld. Die Wohnung habe ich schon verkauft, der Käufer hat sich freundlicherweise bereiterklärt, solange zu warten" - sie lächelte - "bis ich gestorben bin, und erst dann einzuziehen. Hier ist noch Gold und Schmuck, mache das bitte auch zu Geld."

Dann holte Marina eine Liste mit Anweisungen hervor, welche Summe an welche Kirche zu spenden sei, damit man dort für ihren Seelenfrieden betet.

"Und dieses Geld hier..." - sie nahm ein dickes Bündel Geldscheine in die Hand - "wirst du nach eigenem Ermessen an bedürftige Familien mit Kindern spenden."

"Erst musste ich für Marina die Totenmesse organisieren und sie bestatten" , erzählte unser Gemeindemitglied; "dann fuhr ich kreuz und quer durch Moskau, um ihren letzten Willen zu erfüllen. Nun muss ich aber noch entscheiden, welchen Familien ich das restliche Geld gebe, und das ist für mich das schwierigste. Batjuschka, hilf mir, lass uns gemeinsam überlegen. Hätten Sie jemanden im Sinn, der Hilfe benötigt?"

Damals habe ich schon einige Jahre lang bei uns auf dem Dorf gedient. Unter unseren Gläubigen gab es keine jungen Familien, und solche, die allzu bedürftig wären, gab es auch nicht, so dass wir daran gingen, uns an anderen Gemeinden zu erkundigen.

Ich war damals viel unter den Gläubigen unterwegs, habe viele bedürftige gesehen, die aber an ihrer Lage nicht verzweifelten. Gar zu oft bemerkte ich in ihren Augen die Freude und die Hoffnung auf den Herrn, und wenn ich ihnen Geld gab, wunderte sich niemand darüber - vielmehr nahmen sie es als etwas selbstverständliches auf, als wären sie vorher per Telegramm über die bevorstehende Gabe informiert worden. Die Menschen hatten sich gedemütigt und waren äußerste Not gewohnt, wohingegen ich, der schon so viele Jahre mit menschlicher Not zu tun hat, mich nicht daran gewöhnen konnte...

In einer jener Nächte sah ich, vielleicht mir zum Trost, im Traum wieder die Reiter. Wieder ganz genau derselbe sonnige Wintermorgen, die fröhlichen Gesichter der Kinder und die wie im Zeitraffer über den Boden dahinfliegenden Achal-Tekkiner. Herr, das war so schön, dass ich das fast schon vergessene Gefühl jauchzender Freude wieder ganz real empfand, das jäh vom antrabenden Fleginskich unterbrochen wurde. Im Unterschied zum vergangenen Mal begann er nun schon vor dem Augenblick zu rufen, an dem er mit mir auf einer Höhe war. Aber ich verstand ihn wieder nicht - ich hörte ihn wohl, aber das, was er rief, machte für mich keinen Sinn. Er aber schlug mich, wohl aus Verzweiflung über mein Unverständnis, mit seiner Reitgerte wieder aus voller Wucht an die Schulter. Es tat so weh, dass ich in diesem Augenblick erwachte und mich kerzengerade im Bett aufrichtete. Die Schulter schmerzte, als sei ich wirklich von einem Schlag getroffen worden.

"Was soll das denn! Beim nächsten Mal wird er mir wohl gleich den Kopf abschlagen?!" Wahrscheinlich habe ich aufgeschrien, denn die Matuschka erwachte auch und fragte mich mit spürbarer Sorge: "Was hast du? Warum schreist du?" So musste ich ihr denn, wie als Kind der Mutter, berichten, dass ich einen bösen Traum gehabt habe. Ich erzählte ihr den Traum, den ich das erste Mal vor fast schon zehn Jahren sah und den ich aus irgendeinem Grunde nun wieder träumte. "Du bist ein Fabelhans. Dein Arm hat sich verkrampft, und dein Unterbewusstsein verbindet Schmerzen in der Schulter schon automatisch mit dem Gertenhieb von vor langer Zeit. Du bist viel zu empfindlich für solche Eindrücke, Batjuschka. Schlaf."

Inzwischen hatten wir fast das gesamte Geld an Bedürftige gegeben, und es blieben noch Mittel, um einer Familie zu helfen. Aber ich hatte keine "Kandidaten" mehr. Wie immer in solchen Situationen kam mir meine Matuschka zur Hilfe. Sie kam gerade vom Friseur, wo sie unfreiwillige Zeugin eines Gesprächs zwischen zwei Frauen wurde. Sie sprachen von einer jungen Familie, die von ihrem Vater verlassen worden war.

"Kannst du dir das vorstellen", sprach meine bessere Hälfte; "erst haben sie Zwillingsjungen bekommen, und drei Jahre später noch ein Mädchen. Und erst ein weiteres Jahr später stellte der Kinderarzt fest, dass bei dem Kind beide Hüftgelenke ausgekugelt sind. Die Mutter stürzte zu den Ärzten, fuhr zu einem Fachmann nach Moskau, und der machte sich an die Behandlung. Aber es stellte sich heraus, dass er das Kind die ganze Zeit über irgendwie falsch behandelte, und nun war es so weit, dass - wenn man es nicht dringend einer Operation in einer Petersburger Klinik unterzieht - das Kind seinen Lebtag lang nicht laufen können wird. Und solange die Mutter eben mit dem Kind beschäftigt war, traf der Mann eine andere Frau. Drei kleine Kinder, eines von denen besonders fürsorgebedürftig, und der Vater verlässt sie, weil er endlich seine wahre Liebe findet..."

"Von wem erzählst du denn, wer sind diese Leute?"

"Sie heißen mit Nachnamen Sorokin, und sie wohnen..." - sie nannte mir die Adresse. In der Kirche hatte ich sie nicht gesehen, deswegen konnte ich mir niemanden unter diesem Namen vorstellen.

Wir holten Erkundigungen ein, und das, was mir die Matuschka erzählt hatte, wurde bestätigt. Die Sorokins führten zu der Zeit einen kleinen Laden. Als die Familie noch beisammen war, lief die Sache so, dass sie ein wenn auch bescheidenes, so doch aber stabiles Auskommen hatten. Das Familienoberhaupt arbeitete zusätzlich noch irgendwo, so dass sie genug hatten. Nun aber, da der Vater sie verlassen hatte, dazu noch das Kind gerettet werden musste, dann würden sie - wäre da nicht die selbstlose Unterstützung der Großmutter, die den kleinen Laden auf ihre Schultern nahm - gar nicht überleben können.

Ich nahm also das restliche Geld, das von Marina geblieben war, ging zu der mir genannten Adresse. Unten am Haustelefon wählte ich die entsprechende Nummer und hörte:

"Wer ist da?"

"Der Batjuschka. Machen Sie auf."

"Wer, wer?", fragte eine Frauenstimme erstaunt nach "Der Batjuschka?"

Aber die Tür war bereits geöffnet worden, und ich trat ein. Immer noch sehr verwundert ließ mich die Großmutter, eine noch gar nicht alte Frau, in die Wohnung ein. Sie setzte mich an den Küchentisch, sah mich schweigend an und wartete.

"Anna, verzeihen Sie bitte den plötzlichen Besuch, aber der hat einen Grund. Hier -", und ich holte eine für die damalige Zeit recht bedeutende Geldsumme aus den Taschen meines Talars. "Man hat mich gebeten, Ihnen das zu geben."

"Wer hat Sie darum gebeten?"

"Mütterchen, was tut das zur Sache, wer das war? Sie kennen sie ohnehin nicht."

"Das ist Ihr Geld, Batjuschka!"

"Nein", antworte ich und lächele. "Es ist nicht meins. Ich habe nicht so viel Geld, und selbst wenn ich es hätte, würde ich es Ihnen nicht geben. Sie wissen doch: wir Popen sind geizig, das schreibt man doch in allen Zeitungen."

"Ist das wirklich für uns?", kann die Großmutter immer noch nicht glauben.

Ich nicke, und sie betrachtet das Dollarbündel:

"Und da sagt man noch, dass es Gott nicht gibt. Wir wussten nicht, wie wir die Mittel für die Operation in der Petersburger Klinik zusammenkratzen sollten. Dort gibt es wunderbare Ärzte, aber man braucht überall Geld, schon allein dafür, um überhaupt bis dahin zu kommen. Das hier aber wird genug sein für alles! Batjuschka, was muss ich jetzt für Sie tun?"

"Ich brauche nichts; ich wiederhole, das ist nicht mein Geld. Hier ist ein Name" - und ich schrieb ihr "Marina" auf einen Zettel; "bitte beten Sie für ihren Seelenfrieden."

"Aber wir können gar nicht beten, das haben wir noch nie gemacht."

"Das ist nicht schlimm. Alle haben irgendwann einmal angefangen, nun sind Sie an der Reihe."

Als ich die Sorokins verließ, jubelte alles in mir; wenn die Leute nur wüssten, wie wunderbar das ist, wenn man Menschen glücklich macht. Nicht empfangen, was man schon gewohnt ist, sondern geben. Mir ging es schon lange nicht mehr so gut wie jetzt, es war, als sei ich viele Jahre zurück in die Zeit meiner Jugend versetzt worden, in genau den Tag, als ich den glücklichen Kindern auf ihren himmlisch schönen Pferden begegnet bin. Und aus irgendeinem Grunde dachte ich bei mir: wenn ich nicht Priester geworden wäre, dann wäre ein Väterchen Frost wohl so ziemlich das einzige, was ich gern tun würde.

Etwa zwei Monate später kam die Großmutter eigens in die Kirche, um mir von ihrer Reise nach Sankt Petersburg zu berichten und davon, dass die Operation bei Nastja - denn so hieß das Mädchen - erfolgreich gewesen war. Der behandelnde Arzt habe ihnen gesagt:

"Ihr Glück, dass Sie noch rechtzeitig gekommen sind. Noch ein wenig, und wir hätten ihr nicht mehr helfen können. Jetzt bleibt das Mädchen einstweilen noch unter Beobachtung, zur Schule dann sollte aber alles bereits in Ordnung sein."

Seit dem sind wir mit der ganzen Familie der Sorokins bekannt: mit der Mutter des Mädchens, und mit dem Mädchen selbst, das man einstweilen noch mit dem Auto zur Kirche fuhr, damit es dort die Kommunion empfangen konnte.

Denken Sie, dass Fleginskich mich nunmehr in Ruhe ließ? Nichts dergleichen. Er suchte mich noch öfters heim. Die in meinen Träumen lachenden Gesichter der Kinder auf ihren Pferden riefen bei mir immer wieder ein Gefühl der Freude hervor, bis dann der unvermeidliche Gertenschlag meinen Traum in Kopfschmerz verwandelte.

Nun aber sah ich sie, wie sie mich wieder von beiden Seiten umritten, wieder lachten und mir mit ihren Händchen zuwinkten; dann schon ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf und winkte ihnen lange, lange nach und verfolgte sie mit meinem Blick, bis sie zusammen mit ihren Pferden in einer Wolke aus Schneestaub verschwanden.

Als ich am Morgen erwachte, erinnerte ich mich an den Traum. Mein Herz war mir still und freudig, gleichzeitig gab es aber auch einen kleinen Anflug von Trauer. Das kommt vor. Zum Beispiel, wenn man im Traum seine erste Liebe sieht, mit ihr spricht und sie vielleicht sogar besucht, dabei aber die ganze Zeit wohl versteht, dass das ein Traum ist. Man erwacht am Morgen und hat dann genau dieses Gefühl: es ist wohl Freude durch die unverhoffte Begegnung, andererseits ist es Schwermut, weil es eben nur ein Traum war. Und das, obwohl man mit seinem Leben zufrieden ist und nun wirklich nichts daran ändern möchte, man seinen einzigen seelenverwandten, teuren Menschen wertschätzt, aber trotzdem... aus irgendeinem Grunde wird man dann schwermütig.

Ich erinnerte mich also an den Traum, der bereits ein Teil meinerselbst geworden war, und stelle erstaunt fest, dass Fleginskich mich gar nicht geschlagen hatte. Und wenn ich mich nicht irre, hat er mir im Vorüberreiten sogar zugelächelt. Ach, und geschwiegen hat er diesmal auch. Ja, wirklich, so war es! Er schwieg und lächelte. Ach, die Matuschka hat wohl recht, wenn sie sagt: "Morgens erwacht, Traum verblasst".

Es vergingen noch ein paar Jahre, und eines Tages kam Nastja mit ihrer Mutter wieder in unsere Kirche.

"Na, meine kleine Freude", wandte ich mich an das Mädchen. "Wie sieht's aus, kommst du bald in die Schule? Was, schon diesen Herbst? Kannst du denn schon schreiben? Sehr gut! Hier hast du einen Stift und zwei Zettel; schreibe doch auf dem einen diejenigen auf, die mit dir zusammen leben und denen du Gesundheit wünschst, und auf den anderen schreibst du die, welche schon gestorben sind, die wir aber trotzdem weiter lieben, und sie uns."

Solange das Kind eifrig Namen schrieb, sprach ich mit der Mutter.

"Einmal kam mein Mann zurück, aber ich begriff sehr schnell, dass er mich immer noch betrügt, und so habe ich mich endgültig von ihm getrennt. Wir haben keinen Vater, und er ist auch keiner; ich selbst und meine Kinder haben auch wieder meinen Geburtsnamen angenommen. Ich will nicht einmal mehr seinen Namen hören."

In diesem Augenblick brachte und zeigte uns Nastja ihr Werk.

"Zeig einmal her, was haben wir denn da?"

Auf dem Zettel "Für die Gesundheit" stand: "Mama", "Oma" und "die Brüderchen". Auf dem anderen: "Opa" und "Marina". Wir mussten lachen:

"Nein, Kind, man muss die Namen vollständig aufschreiben. Nimm dir einen anderen Zettel und versuche einmal, deinen Namen darauf zu schreiben."

"So, wie man mich im Kindergarten nennt?"

"Ja, ganz genau so schreibe es auf."

Eine Minute später überreichte Nastja mir feierlich den Zettel mit den lustig beieinander stehenden, verschieden großen Buchstaben. Ich las: "Nastja Fleginskich". Und da begriff ich alles.

Das Kind schaute mich an, und ich betrachtete es zum ersten Mal wirklich eingehend. Sie war es also, über die er mir die ganze Zeit etwas zurief. Aber Mark war doch noch vor der Geburt seiner Enkelin gestorben, das hieße ja dann, dass die Liebe wirklich nicht stirbt. Das Kind lächelte, und wir schwiegen.

"Heißt das, dass die Reiter nun nicht mehr wiederkommen?", fragte ich das Mädchen leise.

"Nee", antwortet sie im gleichen Flüsterton, als würde sie wissen, worum es geht.



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