30.
Nov
2016

16
min

Hundert Tage vor der Sintflut

Leseprobe aus der Erzählung "Hundert Tage vor der Sintflut". (Weitere Info zum Titel)

Beim Sonnenaufgang saß Sem, Noahs Erstgeborener, auf einem Baumstamm, ganz nahe am Wasser, und betrachtete eine große Perle, welche auf seiner Handfläche schimmerte. Er grübelte: Sollte er daraus ein Schmuckstück für Lea fertigen, oder sie einfach Vater geben? Oder sie vielleicht Dinah schenken? Dinah würde sie zu schätzen wissen.

Diese Perle hatte er gestern gefunden, als er früh morgens am Strandgut vorbeiging, welches von der Ebbe zurückgelassen worden war. Sie lag in einem Sandgrübchen zwischen verfaulenden schwarzen Algen, abgerissenem Seegras und leeren Muscheln; und hätte sich nicht der Widerschein der aufgehenden Sonne plötzlich in ihr gespiegelt, würde Sem sie übersehen haben und an diesem kleinen wundersamen Spielzeug der Natur vorbeigegangen sein.

Die lange Welle schwappte geräuschlos bis vor seine Füße, stand einen Augenblick still, rollte dann leise zurück und hinterließ auf dem Sand eine feine, filigrane Spur, genauso lang wie sie selbst. Der Himmel über Sems Haupt, welcher dem Innern einer Riesenperlmuschel glich, hatte bereits seine blassen rosigen Farben eingebüßt, und im Osten wurde diese himmlische Muschel bereits von der blass-gelben Scheibe der Sonne erhellt.

Vater hatte irgendwann davon gesprochen, dass nach der Sintflut die Sonne den Menschen unmittelbar aus klarem Himmel scheinen würde und nicht durch dicke Wasserschwaden hindurch. Die Himmel selbst würden dann azurblau, nicht grau wie jetzt sein, und die Sonne feuerfarben. Schade nur, sagte Vater, dass dann niemand außer Adlern es wagen werde, sie direkt anzublicken, denn man wird die Augen schützen müssen. Sich schützen? Ausgerechnet vor der segensreichen Leuchte, welche Wärme und Licht spendet? Das schien seltsam, ja sogar absurd, doch das waren die Worte des Vaters, und diese sprach zu ihm der Schöpfer Selbst.

Noah fügte noch hinzu, dass nicht nur der Himmel des Tages, sondern auch jener der Nacht anders sein werde: Außer dem einsamen Mond würden im nächtlichen Himmel auch andere Leuchten sichtbar, „Sterne“ genannt, und von diesen „Sternen“ werde eine unzählige Menge erscheinen. Den Mond selbst aber werde man derart scharf sehen können, dass seine Ränder, welche jetzt im Nebel kaum zu erraten waren, deutlich erkennbar würden. Außerdem werde man auf seiner Oberfläche Täler und Berge wahrnehmen. Sich ein solches Wunder vorzustellen, war ganz unmöglich, es blieb nur abzuwarten. Und zum Abwarten war nicht viel Zeit — lediglich hundert Tage.

Während man mit großer Begeisterung Vaters Erzählungen über das zukünftige Firmament und überhaupt über die Erde nach der Sintflut lauschte, hätte man oft ausrufen mögen: „So etwas kann es einfach nicht geben!“, aber in Noahs Familie wussten alle: Gerade so wird alles kommen, denn so sprach Vater, und diesem hatte es der Schöpfer offenbart.

Auch die graue Meeresglätte schimmerte perlenhaft, indem sie das niedrige Himmelsgewölbe, durch die Sonne jenseits des wässrigen Firmaments beleuchtet, widerspiegelte. Sem blieb lange, in Gedanken versunken, auf seinem Baumstamm sitzen; währenddessen wich das Meer allmählich zurück. Und nun berührten nicht einmal die launischsten und verspieltesten Wellen seine bloßen Füße, sondern rollten stets weiter zurück: Die Ebbe dauerte an.

Es herrschte eine tiefe und warme Stille, kontrastierend lediglich zu leisem Träufeln der himmlischen Nässe, welche, mit bloßem Auge kaum wahrnehmbar, dennoch stetig und ergiebig auf das Trockene und das Gewässer niederging. Wie weise war es doch durch den Schöpfer eingerichtet, dass die Feuchtigkeit, welche vom Spiegel der Flüsse und Meere aufdampfte, sich im Himmel in einer dicken Wolkenschicht sammelte und, von Luftströmen geglättet, über das gesamte Firmament verteilt, erst hernach sich gleichmäßig auf die Erde herabsenkte. Wie sonst hätten alle Pflanzen der Erde gleich viel Feuchtigkeit erhalten können? Die einen, welche in der Nähe von Gewässern wuchsen, hätten sie in Überfülle, während die anderen sie ganz entbehren würden.

So in Gedanken über dies und jenes versunken, schaute Sem unentwegt auf die Perle, welche dem Ei irgendeines unbekannten, in der Liste nicht berücksichtigten Vogels glich.

Auch unsere irdische Welt gleicht ja einem Ei, dachte er. Wir befinden uns in ihrem Innern, unter der Schale des Himmels, und leben an der Oberfläche des harten Eidotters, der Erde selbst; und die Luft, in welcher wir existieren, gleicht einem ziemlich trüben, nahrhaften Eiweiß. Unser Ei ist riesengroß, in seinem Innern leben unzählige Pflanzen, Tiere und tausende und abertausende Menschen, doch die Welt außerhalb unseres Eies ist noch riesiger. Dort gibt es auch andere zum Leben geeignete Planeten, aber dennoch wählte der Herr einzig diesen einen Planeten, den wir Erde nennen. Bald schon wird die Schale zerspringen, und die Menschheit wird aus dem Ei schlüpfen. Alles wird neu sein. Und die Menschen werden über dieses Neue staunen und sich daran gewöhnen. Falls sie lebendig ausschlüpfen… Vater sagte — und zu ihm sprach der Schöpfer — dass die Menschheit gefährlich erkrankt sei und in der neuen Welt nicht überleben werde, wenn sie in dieser nicht rechtzeitig bereute und sich wandelte.

Der Mensch muss zu seinem natürlichen Zustand zurückkehren. Und nicht nur die Menschen sind krank, sondern auch Tiere, Pflanzen und das Wasser, die ganze irdische Welt ist erkrankt wegen des Ungehorsams des Menschen vor Gott! Und um die Erde zu waschen, zu reinigen, wird eine Sintflut notwendig sein. Nur wenige aber werden gerettet werden. Von den Tieren und Pflanzen eigneten sich für das neue Leben nur jene, auf welche der Schöpfer hinwies. Und gerade für diese Auswahl existierte die Liste.

Von den Menschen hingegen konnten sich in der Arche alle, die es nur wünschten, retten, so viele es auch sein mochten. Kein einziger Mensch würde überflüssig sein! Aber in die Arche gelangen konnte man nur durch Reue: Jene, die sich nicht für krank hielten, konnten nicht geheilt werden. So sagte Vater — und zu ihm sprach der Schöpfer.

Jeden Abend bestieg Noah eine besondere Anhöhe unweit der Küste und predigte den Menschen, indem er sie dazu aufrief, über ihre Sünden nachzudenken, und allen Reumütigen einen Platz in der Arche zuteilte. Aber bereuen wollte bis dahin noch niemand. Selbst jene, die ihnen dabei halfen, die Arche zu bauen, hatten der Predigt Noahs kein Gehör geschenkt! Niemand in all den hundertzwanzig Jahren… Und in den letzten Jahren kam keiner mehr zum Hügel, nicht um der Predigt Noahs zuzuhören, ja nicht einmal, um ihn zu verspotten. Aber es gab noch Dinah…

Sem stand auf, stieg über den Baumstamm und setzte sich mit dem Rücken zum Meer und zur Arche, und mit dem Gesicht zu den Dünen und Felsen am Strand. Auf dem höchsten jener Steinmassive erhob sich Dinahs „Arche“. Nein, gar nicht zum Spott gab sie ihrem Hotel einen solchen Namen, und die Brüder fühlen sich umsonst durch sie gekränkt. Nur hatte das Leben sie gelehrt, schnell zu kombinieren, wo sie einen Vorteil sah. Und in jenen Jahren, als sie ihr Hotel auf den Felsen gebaut hatte — auf jenen da, mit der flachen Kuppe und dem sanften Gefälle in Richtung der Stadt — kamen die Menschen scharenweise zu Fuß oder auf Wagen zur Küste, eigens um Noah zuzuhören. Und so nannte sie ihr Hotel denn auch „Arche“, und sie hatte sich nicht verrechnet: Von allen Hotels der Küste wurde gerade dieses von den Touristen bevorzugt, und dies eben wegen des Namens. „Das ist meine beste Reklame!“, pflegte Dinah zu sagen. Darüber hinaus errichtete sie auf dem Dach ein Pavillon-Restaurant dessen Umrisse denen der echten Arche ähnelten.

Die hölzernen „Bord“-Wände aus Brettern erreichten die Höhe der Tische, und darüber hinaus ragten eine Reihe roter Eiben-Pfosten, welche Dinah frech für echtes Tannenholz ausgab. Auf den säulenartigen Pfosten ruhte ein durchsichtiges Plastik-Schirmdach, welches mit Farnkrautblättern bedeckt war. Auf dem Dach sammelte sich Feuchtigkeit; riesengroße Farnwedel begannen zu verrotten und mussten oft ausgetauscht werden, um das Pavillon-Restaurant stets mit gemütlichem grünem Licht zu beleuchten. Aber bei der schlauen „Archen“-Wirtin war alles vorausberechnet: Der Farn-Hain wuchs gerade hinter dem Felsen, und Dinahs Mitarbeiter pflückten ihn schonungslos kahl. Den Besuchern gefiel sowohl das grünliche Licht auf dem Dach wie auch, dass sie imstande waren, von den Tischen aus den Bau der Arche am Ufer zu beobachten. Freilich wusste Sem all dies nur aus Dinahs Mund. Er selbst aber hatte den Felsen nie bestiegen, obgleich sie ihn dazu einlud, beredete und anlockte…

Und hier war Dinah selbst. Wenn man vom Teufel spricht! Flink wie ein junges Mädchen, fast hüpfend, stiegt sie die steile, aber breite Treppe hinab, welche eigens in ihrem Auftrag aus dem Felsen gehauen worden war, um von ganz oben zum Meer zu gelangen. Eine erwachsene Dame, Besitzerin des reichsten Hotels der ganzen Küste, flog die Treppe hinunter, Stufen überspringend, sobald sie ihn am Ufer erblickte!

Die Treppe führte vom Felsen herab, sanft gewunden, und jede ihrer Biegungen mündete auf eine breite Terrasse mit Bänken zum Ausruhen und großen blühenden Gewächsen in Steinkübeln. Auf einer für Dinah unsichtbaren Terrasse zwei Fluchten tiefer saß eine große Libelle, und funkelte mit riesigen, einem Festkelch ähnlichen Opalaugen. Sem wollte Dinah zurufen, sie möge aufpassen: Eine aufgescheuchte Libelle konnte kräftig zustechen — aber Dinah hatte schon selbst das gefährliche Geschöpf zwischen den Sträuchern erkannt. Sie hielt inne, legte die Finger in den Mund und pfiff, schrill und durchdringend. Und natürlich verscheuchte sie dadurch das böse Insekt. Die aufgebrachte Libelle drehte über ihr einen bedrohlichen Kreis, wagte aber nicht sie anzugreifen, sondern wich seitlich aus, und verschwand, laut mit den Flügeln knisternd, im Farn-Hain.

Dinah stieg nun die Treppe ganz hinab und lief den Pfad zwischen den Dünen entlang, bald hinter ihnen verschwindend, bald wieder zum Vorschein kommend. Auch sie selbst war in ihrem kurzen, changierenden Regenmantel, welcher hinter ihrem Rücken flatterte, einer Libelle ähnlich.

„Hallo, Semmie!“ Dinah küsste ihn flüchtig und ließ sich neben ihm auf dem Baumstamm nieder.

„Grüß‘ dich, Dinchen! Warum warst du so lange verschwunden?“

„Ich habe im Restaurant renoviert. In der letzten Woche gab es unter den Gästen eine prächtige Schlägerei. Drei Säulen gingen völlig zu Bruch, na ja, und das Schirmdach stürzte auf einer Seite. Fünf Stammgäste tot, zwölf verletzt. Das ist doch ein Rekord, oder? Jetzt können wir uns vor Besuchern kaum retten, alle wollen den Unglücksort und die neuen Säulen anschauen, und sich vorstellen, wie das passiert ist. Und was gibt’s bei euch, ihr Archonauten?“

„Wir arbeiten. Wir stechen ja schon in hundert Tagen in See.“

„Ach, lass das, Semmie! Großvater Noah redet nicht erst seit hundert Tagen, sondern schon hundertzwanzig Jahre über diese eure Sintflut, und die Arche steht immer noch hier.“ Sie nickte in Richtung der echten Arche. „Er ist selbst zum Narren geworden, und auch die Familie hat er zum Gespött gemacht. Ich schäme mich, Leuten zu gestehen, dass ich fast selber einmal zu ihr gehörte…“

„Und du selbst hast du das nicht vergessen, Dinchen?“

Dinah schüttelte den Kopf.

„Nein, Sem, ich hab das nicht vergessen. Du bist auch jetzt für mich wie ein Bruder. Ich erinnere mich, wie du geschrien hast, wie man dich an den Händen hielt, damit du nicht hinter mir herranntest. Und Noah… Er stand mit gesenktem Kopf und hatte wohl Mitleid mit mir, bloß hat er trotzdem nichts getan.“

„Dinah, sei gerecht: Vater wusste nicht, welche Folgen das Treffen mit der Mutter für dich haben würde! Das war doch deine leibliche Mutter! Wie hätte er dich nicht an sie zurückgeben können?“ Sem umarmte Dinah, zog sie an sich und küsste sie leicht auf den Scheitel. „Gibst du etwa ihm die Schuld, für das, was später mit dir passierte, Dinah?“

„Ja, das tu‘ ich“, flüsterte Dinah, und lehnte ihr Gesicht an seine Schulter. „Niemals, hörst du, niemals werde ich ihm verzeihen können!“ Und sie begann kläglich und bitter wie ein Kind zu weinen. Sem seufzte schwer und drückte seine Freundin fester an sich.

Minuten vergingen, Sem schwieg, streichelte sie nur am Kopf, und nach und nach beruhigte sich Dinah und schluchzte jetzt immer seltener.

„Sem, und was, wenn diese von Noah festgelegten hundert Tage vergehen, und nichts passiert. Wirst du dann Vater verlassen?“

„Nein, Dinah, werde ich nicht.“

„Warum nicht“, fragte sie, und schaute auf.

„Einfach deshalb. Wenn Vater gesagt hat, dass die Sintflut in hundert Tagen beginnt, dann heißt das, dass es so auch sein wird. Er hat sich diese Frist nicht selber ausgedacht, der Schöpfer hat sie ihm genannt.“

„Wenn nun aber doch keine Sintflut stattfindet? Kann sich dein Vater nicht auch irren?“

„Der Vater vielleicht, nicht aber der Schöpfer.“

„Oh, wie ich es satt habe, dieses Gerede über den Schöpfer, den schon seit ewigen Zeiten keiner gesehen hat!“ Dinah sprang auf und begann vor Sem hin und her zu schlendern, wobei sie auf dem nassen Sand deutliche Spuren ihrer schmalen Schuhe hinterließ.

„Vater hört Ihn unablässig, sagte Sem leise.“

„Das sagt er so.“

„Dinah!“, rief Sem aus und schaute sie vorwurfsvoll an.

„Nun ja, Noah lügt nie, wer würde das bestreiten! Aber was wenn Noah sich nur einbildet, dass er den Schöpfer hört?“

„Willst du sagen, dass mein Vater wahnsinnig ist?“

„Nein, im Ganzen ist Noah natürlich weise und so weiter... aber er ist doch sehr alt, und hat obendrein noch Schrullen!“

„Auch damit bin ich nicht einverstanden. Mein Vater ist der normalste Mensch von allen, die ich kenne.“

„Das heißt dann also, alle anderen sind nicht normal?“

„Du hast es gesagt.“

„Oh, ihr seid mir ja eine verbohrte Sippe!“

„Du aber doch auch, Dinah, bist fast ein Mitglied unserer Familie, darum besitzt Du Sturheit genug für fünf!“

„Ja, davon habe ich mehr als genug. Obgleich ich in meiner Kindheit wohl nicht so zielstrebig und beharrlich war wie jetzt.“

„Stur, Dinah, einfach stur!“

„Nein, entschlossen, stark und selbstständig — so bin ich! Und darauf bin ich stolz. Das Leben hat mich nämlich so erzogen. Und du, Semmie, du bist einfach ein gehorsamer Sohn deines Vaters! Auch Noah hört einzig nur auf den Schöpfer…“

„Vater hört auf alle, aber gehorcht einzig nur seinem Herrn.“

„Und warum muss man Ihm gehorchen, wenn ich fragen darf? Nun ja, er schuf diese Welt und uns, die Menschen, und einige, die besser sind als wir: Allerlei Engel, die finsteren und die lichten und außerdem alle Tiere und alle Pflanzen — nicht einmal die Wissenschaft bestreitet das. Aber Noah hat doch auch selbst uns Kindern erzählt, dass der Schöpfer danach ‚ruhte‘, und sich nicht mehr um die Menschen gekümmert hat!“

„Dass er sich ‚nicht gekümmert hat‘, das hat Vater nicht gesagt.“

„Einverstanden“, räumte Dinah ein, immer noch verärgert vor Sem hin und her schlendernd. „Vielleicht sprach Noah nicht in dem Sinne über Gott, dass Er sich nicht um uns kümmert! Manchmal begegnet der Schöpfer ja wirklich einigen Leuten und spricht zu ihnen, das ist allgemein bekannt. Deshalb würde ich mich nicht wundern, wenn Er auch Noah ständig besucht und zu ihm spricht. Denn nur wenige, außer Noah, würden in unserer Zeit Ihm zuhören. Wer interessiert sich denn dafür, wenn die Wissenschaft ohne jeglichen Gott immer neue Entdeckungen macht und Wunder wirkt? Die Wissenschaft entdeckt solche Geheimnisse des Universums, von welchen euer geliebter Schöpfer aus irgendeinem Grunde nicht einmal Adam etwas andeutete.“

„Wir wissen nicht, worüber Adam und Gott sich unterhielten“, sagte Sem.

Dinah betrachtete ihn aufmerksam und setzte sich erneut an seine Seite auf den Tannenstamm.

„Nun, gib doch zu, Sem, dass die Wissenschaft vieles von dem aufgedeckt hat, was der Schöpfer den Menschen verheimlichte“, fuhr sie bereits viel ruhiger fort. „Weißt du, vielleicht hat Er selber viele Möglichkeiten bei Natur und Mensch nicht vorhergesehen. Zum Beispiel die Tatsache, dass alles Lebendige nicht nur sich Gleiches hervorbringen kann, sondern auch etwas ganz Unvergleichbares! Ich meine das Gehenna-Engineering. Hat denn der Schöpfer daran gedacht, uns Ersatzorgane statt der kranken und hinfälligen zu geben? Nein, die Wissenschaft hat sie uns gegeben — die Gehenna-Medizin. Und die Gehenna-Biologie? Welche erstaunlichen Eigenschaften haben dank ihr Obst und Gemüse angenommen!“

„Na klar! Zwar haben sie Geschmack und Nützlichkeit eingebüßt, können dafür aber jahrelang eingelagert werden.“

„Siehst du! Sogar dein Vater hat bestimmt eingeplant, ein paar gehenna-modifizierte Gemüsesorten und Früchte auf seine Schiffsreise mitzunehmen.“

„Gewiss nicht,“ erwiderte Sem. „Wir haben vor, nur Naturprodukte mitzunehmen, das heißt jenes Obst und Gemüse, welches auf natürliche Weise angebaut und veredelt wurde. Eigentlich essen wir auch jetzt nur solches.“

„Macht was ihr wollt, bei Euch ist ja alles nicht wie bei normalen Menschen. Die Menschheit indessen geht ihren eigenen Weg des Fortschritts, und braucht keine Betreuer, also keine Vormundschaft Gottes mehr. Und außerdem beginnen die Wissenschaftler anzuzweifeln, ob es wirklich der Schöpfer war, der die Welt und die Menschheit schuf, ob sie nicht aus sich selbst heraus, einfach nach den Gesetzen der Natur, entstanden sind. Aber es gibt eine noch kühnere Theorie, wonach die Welt und der Mensch in der Welt von Daimonen, den ehemaligen Engeln, geschaffen wurden, die vom Schöpfer um der schöpferischen Freiheit willen abgefallen sind!“

„Das ist bereits ganz und gar eine abscheuliche Fieberphantasie“, bemerkte Sem achselzuckend.

„Glaub‘ ich nicht! Da ist bestimmt etwas Wahres daran. Daimonen interessieren sich wenigstens aufrichtig für die Menschheit. Sie kommunizieren nicht nur mit auserwählten Gerechten, wie der Schöpfer, sondern ausnahmslos mit allen, die bereit sind, mit ihnen Verbindung aufzunehmen, und verschmähen dabei weder Männer, noch Frauen, noch Kinder. Dort hinter dem Meer zum Beispiel lebt und gedeiht ein ganzes Volk der Kainiten, denen die Daimonen fortwährend beistehen. Und die allerklügsten der Sethiten heiraten Kainitinnen und zeugen Nephilim und Rephaim, und das sind die Menschen der Zukunft!“ — Und sie fügte verträumt hinzu: „Wenn ich nur dort hinkäme!“

„Du bist ganz von Sinnen“, sagte Sem und schüttelte den Kopf. „Was quasselst du da, Dinchen. Wozu brauchst du die Kainiten und ihre verfluchte Nachkommenschaft? Von ihnen kommt doch alles Böse auf Erden!“

„Nun gut, reg’ dich nicht auf. Ich habe sowieso kein Geld und werde auch keins haben, um an jenes Ufer zu gelangen.“

„Na, Gott sei Dank.“

Sie schwiegen. Dann kam Dinah wieder auf das abgebrochene Thema zurück.

„Was ich im Grunde sagen will: Jeder sucht sich nach Belieben seine eigene Weltentstehungstheorie aus. Du kannst an einen Schöpfergott glauben, wenn du unbedingt in Vaters Fußstapfen treten möchtest, und ich verstehe und verurteile dich nicht: Für euch ist das die Wahrheit. Aber die Leute ziehen andere Theorien vor. Es wäre vernünftig, wenn auch du sie kennenlerntest.“

„Wozu denn einen Irrtum erforschen, wenn du die Wahrheit kennst?“, fragte Sem.

„Um bei den Bestrebungen des menschlichen Geistes auf dem Laufenden zu bleiben! Allein schon wegen der Allgemeinbildung, du Ignorant! Man muss doch tolerant sein gegenüber dem, was andere Leute denken und sprechen.“

„Du bist ja bei uns sehr tolerant, Dinchen!“, lachte Sem auf. „Du schreist jeden an, der seinen Mund öffnet, um dir zu widersprechen.“

„Was du nicht sagst… Natürlich schreie ich mein Personal an, aber man kann mit ihnen nicht anders, sie sind allesamt Faulpelze und Diebe. Aber in irgendeiner Gesellschaft bin ich sogar sehr tolerant fremder Meinung gegenüber: Sollen doch alle sagen was sie wollen — mich gehen fremde Meinungen gar nichts an, Hauptsache die Leute sind nett zu mir. Und sie sind nett gerade zu jenen, die mit ihnen einverstanden sind oder so tun, als ob sie bereit wären zuzustimmen.“

„Und du selbst Dinah — glaubst du nicht mehr daran, dass Gott diese Welt und den Menschen in ihr schuf?“

Sem wandte sich zu ihr und schaute ihr in die Augen.

„Ist das denn so wichtig?“, fragte Dinah und schlug die Augen nieder. „Na gut, ich werde dir sagen, was ich darüber denke. Gott mag zwar wirklich diese Welt und uns, die Menschen, erschaffen haben, aber das ist doch noch kein Grund, ihm zu gestatten, die von ihm geschaffenen Menschen herumzukommandieren! Was heißt das schon, jemanden zu schaffen… wenn alle Eltern ihre Kinder so herumdirigieren würden, was wäre das für ein Leben? Und vor allem, wer braucht ein solches Leben? Ich bestimmt nicht. Mein Vater war leider ein Mensch und kein Daimon, sonst würde auch ich hinter dem Meer leben, so wie die Goldene Million der Nephilim und Rephaim. An meine Mutter hingegen erinnere ich mich gut, ich lebte bei ihr bis ich fünfzehn war. Ach, was war sie für ein seltenes Luder! Sie zählte ja nur die Tage, bis sie ihre Tochter auf legale Weise loswerden konnte, nachdem sie von mir alles erhalten hatte, weswegen sie mich gesucht hatte, und zwar meine linke Niere. Freilich auch ich hielt mich nicht an der Mutter fest. Lassen wir sie, wieso erinnern wir uns überhaupt an sie?“

„Du hast angefangen von ihr zu sprechen, Dinah.“

Dinah entschied abrupt das Thema zu wechseln.

„Vergessen wir sie. Du sagst also, Noah hat vor, in hundert Tagen auf Seereise zu gehen?“

„Ja, bereits in hundert Tagen…“

„Und du mit ihm?“

„Natürlich.“

„Und du erinnerst dich, worüber wir das letzte Mal gesprochen haben?“

„Ich erinnere mich.“

„Du also, Semmie, entscheide dich! Entweder schlag‘ dir dieses ätzende Archenzeug aus dem Kopf, oder adieu, Sem, mein lieber Stiefbruder! Wie wär’s, wenn du die Deinigen verlassen und zu mir ziehen würdest? Deine kleine Närrin Lea kannst du mitnehmen, sie stört mich nicht. Wir beide könnten die ganze Küste aufrollen, Sem, sodass die Konkurrenten vor Neid platzen! Ich habe da so einen Plan. Aber bis jetzt konnte ich diesen Plan niemandem anvertrauen, denn außer dir hatte ich keinen verlässlichen Menschen. Kaum dass man sich einen Augenblick abwendet, rauben sie alles fort! Ja sogar direkt vor den Augen tragen sie alles weg… Sobald die Lieferanten das Baumaterial herbeibringen und abladen, fangen die Stapel an, dahinzuschwinden, sogar wenn auf der Baustelle Ruhetag ist. Alles sind sie bereit wegzutragen, buchstäblich alles! Sie tragen es weg, und versuchen dann, ausgerechnet an mich zu verkaufen.“

„Willst Du mich etwa als Nachtwächter einstellen, Dinah?“ — lachte Sem lauthals.

„Aber nein doch, Bruder! Du wirst Hauptmanager meiner ‚Arche‘. Du, Semmie, bist ein Phantast, du hast mir in den letzten hundert Jahren derart die Ohren vollgestopft, dass man damit sämtliche Matratzen meines Hotels füllen könnte. Aber du hast mich nie betrogen, niemals! Das nicht. Du bist ehrlich und verantwortungsvoll, und diese zwei Eigenschaften findet man derzeit bei den Leuten fast gar nicht mehr. Und zu arbeiten verstehst du, ich sehe doch, wie du jeden Tag schuftest. Heutzutage sind nur wenige bereit, selbst für Geld zu arbeiten, wie es sich gehört: Entweder wollen sie es umsonst kriegen, oder stehlen. Und so habe ich allein alle Hände voll zu tun, und verzehre mich im Geschäft, wie ein einsames Bienchen…“

„Wie eine Libelle saust du, Dinchen!“, scherzte Sem. „Du saust und flitzt, schnappst dir das eine, greifst nach dem anderen und immer aufs Geratewohl, Hauptsache es glänzt… Sieh zu, dass du die Flügel nicht nass machst!“

„Nur keine Angst, ich mach‘ sie nicht nass“, lachte Dinah. „So muss man leben — prächtig, aufwendig und glanzvoll, mit Geschmack und Risiko!“

„Und möchtest du, dass ich dir etwas wirklich Wunderschönes und Teures zeige?“

Sem hob die zur Faust geballte Hand und öffnete sie direkt vor ihren Augen. Auf seiner Handfläche lag die tags zuvor gefundene Perle. Dinah rief laut und verzückt aus:

„Welch‘ eine Schönheit!“

„Möchtest du, dass ich sie dir schenke?“

Dinah schüttelte den Kopf und wischte sich die hervorquellenden Tränen ab.

„Nein! Ich verstehe, was solch ein teures Geschenk bedeutet, und kann es nicht annehmen. Ach, Sem, warum kommen mir bei dir immer die Tränen? Eigentlich weine ich schon seit langem nicht mehr.“

„Vielleicht weil du nur mit mir das echte, aufrichtige, und einfache Dinchen-Bienchen bist.“

„Nun, schon wieder…“

Und sie fing an zu weinen, und Sem musste sie aufs Neue trösten.


  • Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
  • Verlag: Edition Hagia Sophia; Auflage: Deutsche Erstauflage (1. Mai 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3937129960
  • ISBN-13: 978-3937129969



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