05.
Sep
2016

7
min

Michej

"Michej" ist eine Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow. Sie ist in der russischen Literaturzeitschrift "Nasch Sowremennik" ("Наш современник") Nr. 11/2014, erschienen.

Das erste Flugzeug beförderte mich in die große Stadt im Norden, das nächste in eine alte Siedlung am Ufer eines breiten Flusses; das dritte sollte mich eigentlich in die Tiefen der Taiga bringen, aber es traten starke Windböen auf, so dass der Himmel für den Flugverkehr gesperrt wurde.

Die Bewohner des Orts, von denen die einen in die große Stadt im Norden, die anderen, wie auch ich, aufs Dorf wollten, gingen wieder zu sich nach Hause, und schließlich blieben nur zwei Onkelchen und ich in dem kleinen Flughafen. Wir stiegen ins Obergeschoss hinauf, das gleichzeitig als Flughafenterminal und als Zehn-Betten-Hotel diente, platzierten uns auf den Betten und gingen daran, auf ein würdigeres Wetter zu warten.

Uns gegenüber quartierten sich zwei Flugzeugbesatzungen aus je zwei Piloten ein und begannen damit, in gedämpftem Ton über ihre Vorgesetzten, über das Gehalt und über Ersatzteile zu sprechen. Die Onkelchen, welche neben mir lagen, besprachen etwas aus dem Bereich der Elektrotechnik; es hatte in ihrer Verantwortung gelegen, den Ort mit einer Telefonanbindung zu versorgen. Das hatten sie erledigt und so waren sie nun auf dem Heimweg nach Moskau.

Das Licht wurde nicht angemacht, so dass, als es draußen dunkel geworden war, es auch bei uns drinnen vollkommen dunkel wurde. Die Piloten wechselten immer seltener mal ein paar Worte, die Onkelchen waren inzwischen ganz still geworden, nachdem sie einander Gutenacht gewünscht hatten; doch einige Zeit später kam es zwischen ihnen wieder zu einer Unterhaltung, die ich nicht nur interessant fand, sondern die mich auch regelrecht aufrüttelte.

Der, welcher auf der Nachbarkoje lag, sagte nachdenklich und mit halblauter Stimme:

"Die Jagd ist schon ein eigenartiges Ding; der Mensch fliegt anderthalbtausend Kilometer in zwei Flugzeugen, hat noch einen dritten Flug vor sich... da fragt man sich doch: Wozu das Ganze?.."

Wahrscheinlich nahm er an, dass inzwischen alle eingeschlafen waren, denn es hatte den Anschein, als habe er sich diese Frage selbst gestellt. Allerdings murmelte das andere Onkelchen schläfrig:

"Des Menschen Wille ist sein Himmelreich..."

"Ja, aber wofür? Verstehst du das etwa?"

Der andere seufzte, als er versuchte, die Schläfrigkeit abzuschütteln, und sagte, dass er es sich nicht erklären könne, während sein älterer Bruder einen Sinn dafür habe, da ihr Vater ein Jäger gewesen war und der ältere Bruder diese Leidenschaft des Vaters noch mitbekommen hatte. Der jüngere wusste nun nichts mehr davon, der Vater starb nämlich sehr früh.

Da erzählte er noch, dass in der Firma des Älteren ein Jungchen angefangen hat, der seit seinem achtzehnten Lebensjahr ein Gewehr besitzt und kündigt, sobald die Jagdsaison beginnt. Der junge Kerl bekommt ja noch keinen Urlaub.

Und sein Bruder würde ihn, sobald er zurück ist, wieder einstellen. Und zwar ohne zu fragen: er ist ein Jäger, und das genügt ihm. Aus Respekt vor der Leidenschaft seines Vaters, obwohl er selbst ihr kein bißchen frönt. Jetzt sei der junge Kerl wieder von der Arbeit fort und irgendwohin nach Norden gegangen, vielleicht gar in diese Gegend.

Da entflammte in mir die Eifersucht: vielleicht war mir mein unbekannter Altersgenosse zuvorgekommen und hatte inzwischen die wunderbaren Entengründe an den Flußläufen in Beschlag genommen, von denen mir die Geologiestudenten berichtet hatten? Nach einigem Nachdenken kam ich immerhin darauf, dass der Platz in der Taiga für uns beide ausreichen sollte, und in der Gesellschaft eines Landsmanns wäre die ganze Sache auch noch viel lustiger. Das Gespräch kam inzwischen zum Erliegen, und alle schliefen ein.

Am Morgen, als das Wetter sich gebessert hatte und wir über Lautsprecher zu den Flugzeugen gerufen wurden, hörte ich einen mir bekannten Familien- und Vatersnamen und begriff, dass einer der beiden nächtlichen Gesprächspartner der Bruder des Chefs meiner Druckerei war, oder anders gesagt: der geheimnisvolle junge Jäger aus seiner Erzählung war ich selbst...

Vor mir erstreckten sich tausende Quadratkilometer Taiga, und die alte, ungeduldig gewordene An-2 riss sich behende von der Startbahn des Dorfflughafens los...

Wir landeten auf Wiesenland. Die mit mir reisenden Fluggäste wussten genau, wohin sie zu gehen hatten und machten sich sogleich auf den Weg, ich aber blieb vor dem Chef des Flughafens, einem mit Fliegerjacke und "Aeroflot"-Mütze bekleideten Mann, stehen. Dazu muss ich anmerken, dass ich das Gewehr auseinandergebaut und im Rucksack verstaut hatte, einzig das Futteral mit den Läufen ragte ein kleines stückweit seitlich heraus.

"Wanderer?", interessierte sich der Chef.

"Nein", sagte ich.

"Geologe?"

Und wieder: "Nein."

"Journalist?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Was denn, Jäger?"

"Jäger."

"Sag das doch gleich!", rief er und warf die Arme, wie zu einer Umarmung, in die Luft.

Ich schwieg und wartete, was wohl auf diese Gefühlsäußerung folgen würde.

"Du musst zu Michej", bestimmte der Chef des Flughafens im Stegreif.

Ich nickte zustimmend.

"Ist das weit?", fragte ich.

"Fünfundsiebzig Kilometer, kannst in drei Tagen da sein."

"In drei Tagen" - ich überschlug kurz - "könnte ich wohl da sein. Aber in welche Richtung gehe ich denn da überhaupt?"

Das erwies sich als einfach: durch's Dorf durch und weiter dem linken Flußufer folgen, ohne irgendwohin abzubiegen. Obwohl man auch nirgendwohin hätte abbiegen können - nicht einmal später, als ich schon einen Monat lang am Fluß gelebt hatte, konnte ich mir das erklären; die Taiga war vollkommen undurchdringlich.

Wir verabschiedeten uns und ich machte mich auf den Weg. Zu Michej. Über fünfundsiebzig Kilometer. An diesem Vorhaben gab es nichts, was mir Sorgen bereitete. Und das aus dem einfachen Grund, dass zur damaligen Zeit Wanderungen auf eigene Faust ein verbreitetes Phänomen waren, ob zu Fuß oder mit dem Kanu.

Meine älteren Brüder widmeten der Erkundung unseres Landes zu Fuß ihre gesamte Freizeit - und auch mich haben sie damit angesteckt, so dass ich noch in früher Jugend Erfahrungen im Taigawandern sammeln konnte. Allerdings hat das Gewehr es veranlasst, dass ich mich von den Kilometerfressern trennte - die Saisons fallen nicht zusammen, auch die Inhalte der Rucksäcke unterschieden sich. Die Wanderer nehmen alles mit, was sie unterwegs gebrauchen könnten, während die Jäger nur das mitnehmen, ohne das man nicht auskommen kann.

Jetzt hatte ich nicht einmal ein Zelt dabei; anstelle des Zeltes hatte ich aber ein großes Stück Polyäthylen. Wenn man auf geringer Höhe einen Strick an den Stamm einer alten Tanne bindet, das andere Ende des Stricks an einem benachbarten Baum festmacht, die Folie über den Strick legt, so dass sich ein einfaches Satteldach bildet, die Folie dann schließlich mit Zweigen am Boden befestigt und sich genügend Tannenreisig unter das Dach stopft, kann man selbst bei starkem Regen eine bequeme Nacht im Freien verbringen. Besonders schön ist das, wenn die unteren Äste des Baumes ein eigenes Zeltdach bilden.

Ich ging durch das Dorf hindurch; im Hof der letzten Hütte war ein Mann dabei, sich ein Boot zu bauen. Er sah mich und rief:

"Wohin gehst du?"

"Zu Michej."

Er legte sein Beil beiseite.

"Warte einen Augenblick, du sollst ihm Schmand mitnehmen. Und etwas Brot wäre auch nicht schlecht..."

Der Mann erwies sich als Verwandter dieses Michej, und mein Weg währte anstelle der drei Tage zu Fuß nur sieben Stunden mit dem Motorboot.

Ich verbrachte die Zeit bis zum Eintreten der Fröste in der Jägerhütte. Nachts angelten wir: Äschen, Lavarete, Quappen und Hechte. Tagsüber war ich bemüht, uns Wildbret für unser Auskommen zu beschaffen, während Michej die Fallen und Fangeisen pflegte: er war ein gewerblicher Jäger, im Winter jagte er Pelztiere. Wenn wir mit dem Wildbret kein Glück hatten, brieten wir uns Fischrogen: man wirft ihn auf die heiße Pfanne, und er wird sofort weiß; man braucht ihn nur noch zu wenden, und eine Minute später ist er fertig.

Es kam die Regenzeit, und Michej schimpfte häufig auf seine Hand, an der er sich noch zu Kriegszeiten Verletzungen zugezogen hatte. Er schimpfte und schimpfte, und bald gehorchte sie ihm wieder. Wir wurden schnell Freunde; ein solcher Menschenschlag sind Frontleute eben - integre, großherzige Menschen, und es ist schier unmöglich, sich nicht mit ihnen anzufreunden. Ich habe noch viele von ihnen erlebt und bin darüber sehr glücklich.

Als der Fluß sich mit Matscheis bedeckte, wurde ich von einem Fischer abgeholt, der vom Oberlauf des Flusses hinab und bei uns vorüberfuhr. Michej rollte ein Fass Salzfisch heraus - meinen Verdienst. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie ich dieses Fass über drei Flugreisen mitnehmen sollte, und verzichtete deswegen auf diese Gabe.

Da nahm aber der Fischer die Seite von Michej ein, und sie gingen daran mir einzuschärfen, dass es meine absolute Pflicht sei, meinen Arbeitsverdienst mitzunehmen. Wenn ich das ablehne, so würde ihr Glaube an das Gute, an die Gerechtigkeit und an den Sinn des Lebens großen Schaden nehmen. Diese Taigaleute, das muss man anmerken, waren Altritualisten, das heißt, sie schätzten die Ordnung geradezu über alles.

Wir feilschten und einigten uns letztlich auf zwei Eimer - soviel konnte ich wenigstens mit meinen Händen fortbekommen. Allerdings kam es nicht dazu, dass ich etwas zu tragen hatte.

Der Fischer schaffte die emaillierten Behälter bis zum Flughafen, sprach mit dem Chef, der tuschelte mit den Piloten, und als das Flugzeug in der alten Siedlung gelandet war, luden die Piloten beide Eimer in das andere, mein nächstes Flugzeug um. Genau das Gleiche passierte in der großen Stadt im Norden. Und im Moskauer Flughafen Scheremetjewo brachte ein Arbeiter meinen Anteil an der Ausbeute mit seinem Elektromobil bis zur Taxihaltestelle.

Welch eine Gnade mir auf die Bitten Michejs zuteil geworden war: ein Jäger hat die Leute gebeten, und das genügte. Eigentlich hieß er Klim. Kliment. Michej leitete man von seinem Nachnamen her, und das war für seine Freunde bestimmt.

Wir schrieben uns lange Zeit, ich schickte ihm Angelzeug, und im Winter schickte er mir gefrorene Truthähne. Dann fuhr ich in andere Gebiete zur Jagd und unser Schriftwechsel kam zum Erliegen. Nun aber... ach, was nun? Ein ganzes Leben ist vergangen, seit wir seinen Vierzigsten gefeiert haben.

Aber was wirklich noch interessant ist: der Chef des Flughafens hat bei unserer ersten Begegnung nicht einmal danach gefragt, woher ich komme. Ein Jäger, fertig, das genügte vollkommen.



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