06.
Mai
2017

22
min

Der dritte Tag

"Der dritte Tag" ist eine Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow.

Das kleine Institut nahm das ganze Erdgeschoss eines alten Hauses am Moskauer Arbat ein. Eigentlich war dieses Institut schon längst nur noch die Filiale eines anderen, weit solideren Instituts, aber vermutlich hat es sich durch seine territoriale Autonomie die ureigene Struktur und sogar das Türschild mit seiner ellenlangen Bezeichnung bewahren können.

Jemand, der zum ersten Mal hierher geriet – sagen wir, ein neuer Kurier aus dem Ministerium oder ein dienstlich aus der Provinz Angereister – hielt, sobald er die Türen aufgeschlagen hatte, immer erst einmal inne und war vom Reichtum der mannigfaltigen Flora geradezu überwältigt: Von den Fenstersimsen strebten opulente Blumengewächse in die Höhe, bahnten sich, Girlanden gleich, ihren Weg über die Wände bis zur Decke und hingen von Regalen und Schränken herab.

Da bittet der Neuling für gewöhnlich um Entschuldigung und geht wieder hinaus auf die Straße, um sich die Inschrift auf dem verwitterten Türschild noch einmal genau durchzulesen; er zuckt mit den Schultern und entscheidet sich dafür, einen zweiten Versuch zu wagen. Nachdem er dann noch einmal gegrüßt und gefragt hat, ob es denn hier sei, wo sich das Institut mit genau dieser Bezeichnung befinde, gehen ganze sechs Frauen, die er zuvor in den Dickichten des Dschungels gar nicht wahrgenommen hatte, daran, ihn gleichzeitig und durcheinander darin zu versichern, dass er sich tatsächlich nicht geirrt hat.

Man platziert den Gast in einem durchgesessenen Sessel, und sofort wird der elektrische Samowar angeworfen; Süßigkeiten, Gebäck und Kekse werden aus den Taschen hervorgeholt. Der Gast versucht an dieser Stelle immer noch zu erklären, aus welchem Grunde er eigentlich gekommen war, aber sieht alle nur kurz abwinken: »Später, später!«

Da erscheinen noch irgendwelche Damen und beginnen damit, Geschichten aus ihrem Einkaufsleben zu erzählen; andere verschwinden und tauchen wieder auf… Und schon bald verwechselt der Gast die Mitarbeiter des Instituts mit den sonstigen Hausbewohnern; inzwischen wird er schon mit hausgemachten Piroggen, Quarkpfannkuchen und Gemüsesalat bewirtet, zum zigsten Mal gießt man ihm frisch aufgebrühten Tee ein, er bekommt Einladungen in die Wohnung Nummer Zwölf, wo es ein »selbstgemachtes Fruchtlikörchen« zu kosten gebe, in die Nummer Achtundzwanzig, um sich dort einen »zu Pilzchen zur Brust zu nehmen«, während der Pudel von der vierten Etage schon auf den Hinterpfoten die Lesginka tanzt… Und urplötzlich taucht ein gespenstischer Mann aus dem Lianendickicht auf, übergibt der Sekretärin ein Bündel und verschwindet wieder. »Wer war das denn?«, wundert sich der inzwischen heimisch gewordene Gast. »Na, das war Karzew!«, erklärt man ihm nicht minder erstaunt über seine Begriffsstutzigkeit.

Der Gast denkt einige Augenblicke lang nach und erinnert sich daran, dass es ja dieser Karzew ist, zu dem er eigentlich angereist war, und dass genau dieser Karzew ihm irgendein wichtiges Dokument gegenzeichnen sollte: eine Liste, eine Bescheinigung oder einen Bericht. Nachdem er sich nun bis zu der Stelle durchgeschlagen hat, an der die Vision kurz zuvor erschienen war, entdeckt der Gast einen ganz und gar traditionellen Hausflur: verraucht und unheimlich kahl.

Er findet die Tür mit dem passenden Türschild, klopft kleinmütig an, tritt ein, und sein Blick fällt auf einen müde wirkenden Mann von vielleicht fünfundvierzig Jahren – Wladimir Iwanowitsch Karzew, den Direktor der Filiale. Karzew reißt sich von seinen Papieren los, grüßt, nimmt seine Brille ab, reibt sich die geschwollenen Augen, hört sich das Anliegen des Gasts an, setzt die Brille wieder auf, nimmt die ihm gereichten Dokumente in Augenschein und unterschreibt.

Karzew versah seinen Dienst in dieser Einrichtung bereits seit der Zeit, als sie eine Filiale geworden war: der Chef der Dachorganisation hatte ihn dazu überredet, seine Doktorarbeit aufzuschieben und ein-zwei Jahre, solange nämlich die Reorganisation lief, »im Chefsessel zu sitzen«. Karzew arbeitete diese zwei Jahre ab, arbeitete auch ein drittes – es fand sich kein Ersatz für ihn. Er beschwerte sich, er schimpfte; man bat ihn, man bettelte, er möge »doch nur ein kleines bisschen noch, wenigstens ein klein wenig« weitermachen, man setzte eine »letzte« Frist fest, dann die »allerletzte«, schließlich die »endgültige«. So verging die Zeit. Die unvollendete Doktorarbeit blieb immer weiter in der Vergangenheit zurück, und für Karzew wurde es immer schwieriger, in der ständig tobenden Papierschlacht aus Berichten, Zusammenfassungen, Bescheinigungen und Berichten über Berichte das Gleichgewicht zu behalten.

Man könnte nicht behaupten, dass die Filiale, der Karzew vorstand, gar nichts tat. Sie tat etwas. Sie brachte einen bestimmten Nutzen. Wenigstens nahmen das die übergeordneten Instanzen an. Da sie nun davon ausgingen, dass der angenommene irgendwann zu einem spürbaren Nutzen wird, führten sie allenthalben Umstrukturierungen durch: mal lösten sie die eigenständige Buchhaltungsabteilung der Filiale auf, mal gaben sie der Filiale die eigene Buchhaltung wieder zurück; oder sie schufen die Stelle eines Personalchef der Filiale ab, nur, um sie später wieder einzusetzen. Doch irgendwie wollte es nicht gelingen, eine spürbare Steigerung der Nützlichkeit zu erreichen.

Karzew nun befand in Augenblicken, da sich seine Gedanken auf die Höhen der nationalen Interessen emporschwangen, dass seine Einrichtung dem Land wohl den größten Nutzen bringen würde, wenn sie einfach schließt. Dabei war er sich dessen bewusst, dass diese seine Gedankengänge dem Reich der Utopie entstammten: Im Verlauf von drei Jahren schaffte er es nicht, gleich wie er sich mühte, auch nur einen einzigen Nichtsnutz zu entlassen; was sollte man da von der Schließung einer ganzen Einrichtung reden – das waren nur Träumereien… Kurz, seinen Dienst versah er eher freudlos.

Um Karzews Familienangelegenheiten war es so bestellt, wie es leider allzu oft vorkommt: seine Kinder wurden ihm mit der Zeit immer lieber, seiner Frau dagegen wurde er mehr und mehr überdrüssig. Es ist auch sicherlich nichts Verwunderliches daran, dass das Leben ihm von Zeit zu Zeit ganz unerträglich vorkam. Es passierte ihm auch schon, dass ihm in schwierigen Augenblicken das Herz in der Brust zu schmerzen begann, und Karzew machte sich dann bereits Gedanken über die Möglichkeit eines baldigen Herzinfarkts; dann wieder bekam er unerträgliche Kopfschmerzen, die Blutgefäße seiner Augen platzten – und er grübelte über Schlaganfälle nach; dann wieder gab es Augenblicke, da ihn Kopf und Herz gleichzeitig schmerzten. »Würde mich mal interessieren«, grübelte er, »woran ich nun sterben werde – an Herzinfarkt oder Schlaganfall?«

Erholung fand Karzew allein beim Angeln. Am schlimmsten setzte ihm der Arbeitsstress in den Wintermonaten zu, so dass es nicht wunder tut, dass er das Eisangeln bevorzugte.

Er legte vorab einen bestimmten Tag fest und ging bis dahin an die gewissenhafte Vorbereitung seiner Angeln, die er sorgfältig in seinem Angelkasten verstaute, er bevorratete sich mit Lebensmitteln, schärfte die Bohrwinde, holte sich im Angelgeschäft Zuckmückenlarven zu fünfzig Rubel die Streichholzschachtel, und machte sich schließlich mit einer grimmigen, trotzigen Konzentriertheit auf den Weg zu irgendeinem namenlosen Gewässer, auf dessen Eis sich an den Wochenenden allerdings eine derart große Menge an Karzew ähnlichen Alltagsflüchtlingen versammelte, dass das Eis es zuweilen nicht aushielt.

Einmal, mitten im Winter, in einer Zeit, die nach Anglerbegriffen vollkommen verloren war – wenn sich die Fische nämlich so gut wie gar nicht angeln lassen – fand sich Karzew um die dreihundert Kilometer von Moskau entfernt an einem kleinen Eisenbahnhaltepunkt wieder, wie man sie heute kaum noch antrifft: das Häuschen des Streckenwärters, eine womöglich noch in den Kriegsjahren halb zerstörte Wasserpumpe, ein eisernes, von Hand umzuschaltendes Streckensignal und das schneeverwehte Band des Abstellgleises mit einer uralten Weichenlaterne, aus deren Glaskörper heraus ein Kerosinflämmchen trübe und nervöse Lichtsignale gab.

Die Eisenbahnstrecke überquerte an dieser Stelle ein unbedeutendes Flüsschen, auf dem Karzew es mit dem Angeln versuchen wollte. Er war nachts angekommen. Kaum war er in den Schnee herabgesprungen, setzte sich der Zug auch schon wieder in Bewegung. Er wartete, bis die roten Leuchten des Schlusswagens in der Ferne verschwunden waren und der vom Zug aufgewirbelte Schnee sich gelegt hatte, begab sich aufs Eis und bohrte noch vor Tagesanbruch eine Anzahl Wuhnen, baute sich aus seiner Plane ein Halbverdeck – kurz, er ließ sich durchaus passabel nieder.

Von Zeit zu Zeit bahnten sich Holztransporter ihren Weg flussaufwärts über den zugefrorenen Fluss. Das meterdicke Eis knackte unter dem Gewicht der Laster unbedenklich, der Schein ihrer Lampen umriss die Konturen des ansonsten im Dunkel unsichtbaren Ufers, das hier flach und verschneit, woanders wieder steil und von einer Wand aus Kiefern gesäumt war.

Es wurde hell. Die Fische bissen nicht. Karzew machte sich daran, neue Wuhnen zu bohren, versuchte es mit Blinker, mit Friedfischangel, mit Nymphen: hellen, dunklen, schweren, leichten, tropfen- und schrotförmigen. Er hatte sein gesamtes Arsenal durchprobiert. Er tauschte den Köder aus, fütterte mit kleinen Larven an, dann mit Semmelbrösel – es brachte nichts. Allerdings war er ein erfahrener Angler, er wusste, dass der Fisch viel öfter nicht biss, als dass er biss. Er verfiel also nicht in Mutlosigkeit, rollte seine Plane ein, verstaute sie im Rucksack und begab sich auf die Suche nach dem Fisch. Eher zum Spaß bohrte er eine Wuhne unter der Brücke – an den Brückenpfeilern ist der Wasserdruck für gewöhnlich höher – und aus der Wuhne spritzte eine regelrechte Fontäne, das Wasser ergoss sich über das Eis und bildete einen großen See; Karzew ging weiter und pfiff sich irgendein Liedchen, denn gottlob war seine Frau nicht zugegen, die ihm das Pfeifen verboten hätte: »Pfeif nicht! Sonst geht uns das Geld aus!«

»Hol‘ ihn der Kuckuck, den Fisch«, dachte sich Karzew. »Soll er eben nicht beißen. Trotzdem fahre ich erst am Sonntag wieder zurück nach Hause.« Es war gerade erst Freitag.

Insgesamt neunundvierzig Löcher machte Karzew im Eis: über tiefem Wasser, über einer Furt, über der Fahrrinne und in den Buchten. Aus dem fünfzigsten – dem ‚Jubiläumsloch‘ – zog er einen kleinen, halb durchsichtigen Kaulbarsch heraus. Er hielt ihn eine Zeitlang auf seiner Handfläche und dachte: »Wenn pro fünfzig Wuhnen ein Fischlein beißt, dann wird sich die Bohrwinde bis zum Griff abnutzen, ehe ich genug für eine Fischsuppe habe«. Er gab den Fisch zurück ins Eisloch.

Da tauchte ein Männchen am Ufer auf. Die Gestalt kam heran, grüßte und interessierte sich für den Fang. Karzew bot ihm extensive Erläuterungen dar und erfuhr daraufhin, dass »heuer gar kein Fisch im Fluss ist, nämlich gar nicht: Sommers ha‘m se ihn komplett mit Elektroangeln herausgeholt«.

»Nun müssen wir den Frühling abwarten!«, schloss das Männchen. »Bis neuer den Fluss hochkommt.«

»Verstehe.« – Karzew war ernstlich betrübt, und das durchaus nicht aus dem Grunde, dass er noch lange auf das Frühjahr zu warten hatte, sondern weil er wieder einmal – wie recht oft im Verlauf der vergangenen Jahre – auf ein Gewässer geraten war, das durch die Elektroangeln von offensichtlichen Fischwilderern verdorben worden ist.

»Geh’ doch zum See«, schlug der Mann vor.

»Das hieße ja – wieder zurück, auf den Zug warten…«

»Wozu? Der Zug macht einen Haken, mit dem Zug sind‘s ganze vierzig Kilometer, wenn man aber direkt hingeht…« – er fuchtelte mit dem Arm, um eine Richtung zu bezeichnen – »…dann sind‘s vielleicht sieben, acht Kilometer.«

»Findet sich dort was zum Übernachten?«

»Da ist eine Siedlung, ich lebe ja selbst dort. Du, hier, schau: Wenn du aus dieser Richtung kommst, siehst du zuerst ein kleines Werk – mit Zaun, Pförtnerhaus, eigenem Gleisanschluss und so – wirst schon sehen. Dort machen sie Holzbalken, also… und die Wägelchen für die Holzfäller. Um vier gehen die Arbeiter nach Hause, frag’ mal nach, irgendwer lässt dich sicher; unsere Leute sind wohlwollend, gastfreundlich. Ich würde dich ja zu mir mitnehmen, aber ich gehe gerade ins Dorf, ein Pferd zu holen, werde wohl auch im Dorf übernachten…«

Gegen vier Uhr kam Karzew in der Siedlung an und fand das Werk. Ein paar Frauen kamen aus der Pforte mit dem Pförtnerhaus. Er suchte sich die sympathischste und bat mit einer unnatürlichen Verspieltheit in der Stimme:

»Gute, lass einen Fremden nicht erfrieren, gestatte mir eine Übernachtung!«

Sie reagierte lediglich mit einem hämischen Grinsen und schüttelte den Kopf. Aber immerhin blieb sie stehen.

»Ich meine das ernst«, sagte Karzew und ärgerte sich über sich selbst. »Bin aus Moskau zum Angeln gekommen, habe aber nichts für die Nacht. Ich bezahle auch.«

»Es ist nicht deswegen«, grinste sie wieder, diesmal aber, so schien es Karzew, schon weit sanftmütiger. »Habe eine große Familie, das Haus voller Kinder… Walja!«, rief sie eine vorübergehende Frau zu sich heran. »Wer war es, der Angler bei sich übernachten lässt?«

»Die Maksjuticha«, antwortete Walja, »Tatjana Frolowa, und wer noch? Die Sojka Palnikowa… ah, da! Sojka, komm mal eben rüber!«

Eine weitere Frau trat hinzu.

»Sojka, nimm mal den Anglersmann zu dir«, bat die Sympathische sie. »Weißt ja selbst, ich hab‘ einen ganzen Kindergarten, und Koljuschka hat Ohrenschmerzen – muss sich irgendwo verkühlt haben…«

»Von wegen irgendwo«, erwiderte Walja. »Hab‘ ich dir doch gesagt, Eishockey haben sie gejagt, er warf die Mütze fort – war ihm wohl zu warm geworden. Dabei pfiff der Wind nur so über den See… Ich rief und rief ihm zu, aber er – null Aufmerksamkeit…«

»Na warte, gleich bin ich zu Hause und werde ihm ‚null Aufmerksamkeit‘ zeigen!«

Karzew betrachtete abwechselnd die Sprecherinnen und Sojka und wartete.

»Kommen Sie«, sagte letztere schließlich mit heiserer Stimme.

Erst gingen sie zu viert: Die Frauen redeten durcheinander über ihre Kinderchen, während Karzew schweigend hinterhertrottete. Dann musste er mit Sojka abbiegen. Er bedankte sich bei den anderen Frauen für ihre Sorgen. Sie verabschiedeten sich.

Sojka wohnte im zweiten Stockwerk eines Holzhauses mit Gemeinschaftswohnungen. Sie betraten die Wohnung, Sojka machte Licht und sprach, ohne sich umzudrehen, mit müder Stimme: »Legen Sie ab, ziehen Sie ihre Schuhe aus; die Tochter und ich sind im kleinen Zimmer, Sie bekommen das große: Wo sie wollen, auf dem Bett oder auf der Liege«. Sie hing ihren Mantel auf und machte sich daran, den Ofen anzuheizen.

Karzew zog seine Pelzjacke und die Filzstiefel aus, warf einen Blick in das große Zimmer, das eigentlich gar nicht so groß war, und bemerkte die unglaubliche Ordnung: Gardinen, Überdecke, Servietten – alles sauber, weiß, gebügelt…

»Am besten, ich begebe mich auf den Fußboden«, dachte er laut. »Ich hab‘ doch auch meine Pelzjacke…«

»Auf den Boden geht‘s, wenn viele Leute da sind«, sagte die Hausherrin mit der gleichen Müdigkeit in ihrer Stimme. »Wo Sie doch aber allein sind – wozu?«

»Ist Ihre Tochter eigentlich schon erwachsen?«, fragte Karzew, einfach, um etwas zu sagen.

»Sie geht in den Kindergarten. Ich mache Abendbrot und gehe sie abholen. Was stehen Sie da herum? Kommen Sie herein, setzen Sie sich – haben sich bestimmt abgeschuftet heute. Wir kochen gleich Tee auf – mit dem Gasherd geht das schnell. Den Ofen feuere ich für die Wärme.«

Karzew holte seine Lebensmittel aus dem Rucksack und ging in die Küche:

»Ich habe hier…« und begann damit, das gefrorene Brot, steinharte Wurst, Käse und Konserven aus den Tüten auf den Tisch zu legen.

»Ach, das werden Sie noch brauchen«, sagte die Hausherrin, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf den Tisch geworfen hatte.

»Ich habe genug. Zumal es alles vereist ist.«

»Na, dann soll es eben bleiben«, war sie einverstanden.

Dann suchte Karzew nach einer Stelle, an der er die Zuckmückenlarven bis zum nächsten Morgen deponieren könnte, so dass sie weder erfrieren, noch vor Hitze umkommen. Er deponierte sie auf der Treppe nahe beim Erdgeschoss. Die Hausherrin versicherte, dass die Hausbewohner, was die Angelei und deren Zubehör anbelangt, durchaus kompetent seien und die Mückenlarven deshalb nicht entsorgen würden.

Schließlich tranken sie Tee. Karzew fiel die Tüte mit Pastila ein, und er bewirtete die Hausherrin mit Pastila.

»Hat Ihnen bestimmt Ihre Frau mit eingepackt?«

»Nein«, entgegnete Karzew. »Ich selbst.« Er wurde sich sogleich dessen bewusst, dass er das nicht hätte sagen sollen, denn hierauf könnte es zu weiteren Fragen kommen. Deshalb bemühte er sich zu scherzen:

»Sie achtet auf meine Figur«, sagte er und lächelte unsicher. »Solche Dinge muss ich mir schon selbst gönnen… Essen Sie ruhig, genieren Sie sich bitte nicht« – bei diesen Worten wurde er schließlich gänzlich verlegen. »Ich mag nämlich eigentlich keine Süßigkeiten, das Zeug ist nur so… ist mir untergekommen, als ich losfuhr, da nahm ich es mit. Geben Sie doch Ihrem Mädchen auch was«, sagte er und schob die Tüte von sich weg, zum anderen Ende des Tisches hin.

Solange die Hausherrin unterwegs war, um ihre Tochter zu holen, studierte Karzew die jüngsten Ausgaben der Lokalzeitung, gähnte, sah sich noch einmal um und bestimmte vollkommen maschinell, ohne, dass er damit etwas beabsichtigte: »Einen Mann hatte sie sicher gar nicht – sie ist nicht schön. Die Tochter hat sie sich wohl auch so eingefangen, ohne einen Mann… das Mädchen ist im Kindergarten, die Hausherrin schon jenseits der Vierzig, die muss sie also wohl so mit achtunddreißig-neununddreißig bekommen haben… Hat also sicher einfach ihre letzte Chance genutzt… Sie ist ja auch ganz und gar ungepflegt – hat zottelige, ungekämmte Haare, es fehlen ihr oben die beiden Vorderzähne, na, und die unteren sind auch nicht mehr komplett. Die fehlen ihr sicher auch schon lange: sie zischelt und nuschelt beim Sprechen fast gar nicht – wird sich dran gewöhnt haben… Was für einen Mann könnte es da geben?.. Sie lebt jetzt für ihre Tochter – im Haus ist Ordnung, es ist sauber, bestimmt ist ihr Töchterchen auch ein feines und ordentliches Mädchen. Na, das ist ja wohl auch recht so, eine gute Mutter ist sie. Vielleicht ist sie auch noch die beste Werktätige in ihrem Betrieb…«

Der Tee, die Wärme, der plappernde Fernseher hatten ihn träge gemacht, so dass er sich auf die Liege begab, einschlief und erst wieder aufwachte, als bereits Sendeschluss war: Die Hausherrin schaltete den Fernseher aus und stupste Karzew leicht an der Schulter. Er erhob sich leicht beschämt: »Entschuldigen Sie bitte.« Sie bat ihn, er möge leiser reden, und Karzew wurde sich bewusst, dass es bereits sehr spät war und das Mädchen wohl schlief.

»Gehen Sie solange in die Küche, essen Sie etwas, ich bereite Ihnen solange das Bett vor.«

Er wurde sich darüber klar, dass er bisher noch kein Abendbrot gegessen hatte und setzte sich zu Tisch. Kurz darauf kam auch die Hausherrin hinzu und ging daran, den Abwasch zu erledigen.

Als er sich aufs Bett warf, lauschte Karzew den Geräuschen, die aus der Küche kamen, wo die Hausherrin noch damit beschäftigt war, Ordnung zu schaffen – er lauschte, schlummerte, aber schlief nicht endgültig ein: »Was ist, wenn sie sich nach ihrem Abwasch auszieht und zu mir kommt, hm?.. Nein, schön ist sie natürlich nicht, aber eigentlich doch ein ruhiges und gutmütiges Weibsbild… Eine gewisse Herzlichkeit hat sie ja, also… Und dann, mal ehrlich: bin ich etwa kein lebendiger Mensch? Wie lange soll ich noch dieses Mönchsdasein fristen?..«

Seine Gattin gehörte nämlich zu jenem Schlag Frauen, für die ein Mann nicht mehr ist als nur ein Partner im großen Werk der Arterhaltung. Nachdem sie weiland einen Schwall Leidenschaft auf Karzew abgesetzt hatte, brachte sie glücklich ihre Kinder zur Welt, und als sie später feststellte, dass Karzew sich sehr an seine Söhne geheftet hatte, vernachlässigte sie in aller Entschlossenheit ihre ehelichen Pflichten. Ab und an zeigte Karzew zaghaftes Interesse, machte Andeutungen, aber seine Frau antwortete ihm so, wie sie vermutlich unter Leuten auf die Annäherungsversuche eines fremden Mannes reagiert hätte: »Schämst du dich denn nicht?!«, rief sie dann mit zornigem Befremden im Unterton, und dann, als sie wieder etwas abgekühlt war, berichtete sie von noch einer Betriebsberatung. Letzten Endes schämte sich Karzew wirklich, er zog auf das Klappbett um und fand Gefallen an Büchern über Einsiedler und Mönche.

Von Zeit zu Zeit setzte er es sich in den Kopf, ein »Weibchen« zu finden, aber dafür wäre es notwendig gewesen, wenigstens für kurze Zeit aus dem Mahlstrom seines Alltags auszubrechen, allein – wie? Einmal im Jahr zum Angeln zu kommen, das allein war schon schwer genug! Und hier, jetzt, hatte er es doch beides: das Angeln, und auch eine Frau…

In genau diesem Augenblick tauchte sie auch wirklich auf. Karzew spannte sich an, schob sich zur Wand zurück, aber die Hausherrin lief vorüber in ihr Zimmer und schloss die Zimmertür. Karzew wartete eine Zeitlang und stellte dann zu seiner eigenen Schande fest, dass er sich ärgerte…

Mitten in der Nacht gab es Lärm, dessen Ursache unklar war, und das Licht ging an. Karzew erhob sich: Alle Türen standen sperrangelweit offen. Er kleidete sich an und ging hinaus ins Treppenhaus. Es stellte sich heraus, dass es der alten Nachbarin schlecht ging. Die Hausherrin war hinausgegangen, um die Feldscherin zu holen. Karzew setzte sich ans Bett der Alten, um aufzupassen. Sie bot einen ziemlich leblosen Anblick.

Die verschlafene Feldscherin tauchte auf, verpasste der Alten eine Spritze, und die kam wieder zu sich. Seufzte und sprach, ohne sich an jemand bestimmten zu wenden: »Gerade einmal drei Tage lang war mein Leben: Einen Tag lang lief ich als Mädchen herum, noch einen Tag als junge Frau und noch einen Tag lang war alles andere: Habe gearbeitet und Kinder großgezogen…«

Diese Worte bedrückten Karzew: er hat schon vor längerer Zeit – ungefähr mit dreißig – begriffen, dass das Leben unheimlich kurz ist; ziemlich oft betrachtete er verstohlen, wie aus einem Versteck heraus, den schnellen Lauf der Zeit. Er bemerkte ihn vor allem an Veränderungen in den Gesichtern seiner Bekannten, Verwandten, in seinem Gesicht; daran, dass er in Gesprächen immer häufiger von Ereignissen sprach, die vor fünfundzwanzig, vor dreißig, inzwischen auch schon vor vierzig Jahren passiert sind; vor allen anderen Dingen aber setzte Karzew die alte Wanduhr in Erstaunen: in seiner Kindheit schien es ihm, als schlüge diese Uhr sehr, sehr selten, jetzt aber schlug sie fast ohne Unterlass. Na, das alles gut und schön, aber nur drei Tage?..

»Ich gucke ja schon von drüben«, flüsterte die Alte, indem sie sich, wie davor, an niemand bestimmten wandte.

Karzew verstand wohl, von wo aus sie »guckt«.

»Vorgestern ein kleines Mädchen«, fuhr die Alte fort; »gestern mit meinem Koljuschka herumgeknutscht… Koljuschka, wie viele Jahre liegt der schon in der Erde und wartet auf mich… Und dann – der heutige Tag – und das war‘s«, sagte sie und schloss ihre Augen. »Und das war‘s…«

Inzwischen graute der Morgen, und Karzew begab sich zum See, auf dessen Eis.

Er ging an einem riesigen Eisloch vorbei, neben dem ein Eisschöpfer mit langem Griff lag – offenbar beschafften sich die hiesigen Angler hier ihre Mückenlarven; er ging an einem einsamen Angler vorüber, der ganz offensichtlich an Eislöchern Position bezogen hatte, über die er den Fisch noch am Abend angefüttert hatte: er ging weit hinaus und kam an einer Stelle zum Halten, die ihm aus irgendeinem Grunde gefiel; »Nein, ich verstehe das ja alles«, dachte er, stellte seinen Kasten aufs Eis und holte den Eisbohrer aus seiner Verkleidung; »aber dass es nur drei Tage sein sollen…« – und begann damit, Löcher ins Eis zu bohren.

Hin und wieder bissen träge kleine Barsche – »Matrosen« nannte man sie – und mitunter holte er eine kleine Plötze aus dem eisigen Wasser. Karzew war damit durchaus zufrieden. Allerdings schien der Fisch an den anderen Orten nicht zu beißen, so dass die anderen Angler nach und nach in Karzews Nähe Stellung bezogen, ihn ringsherum mit Eislöchern umgaben und so letztlich zu viel Licht ins Wasser kommen ließen, worauf der vorsichtige Fisch sich nicht mehr rührte. So musste er weiterziehen. Erst liefen einige Männer hinter ihm her, die wahrscheinlich annahmen, dass er gute Stellen kennt, doch nach und nach ließen sie von ihm ab. Zu dieser Zeit befand er sich schon am gegenüberliegenden Ufer des Sees.

Das Wetter war still, trübe, und der Fisch biss nicht. Vor lauter Langeweile wollte Karzew einen Blick darauf werfen, was sich unter dem Eis tut, legte sich auf den Bauch und steckte sein Gesicht in das Eisloch; er erstarrte, als er sein unausgeschlafenes, aufgedunsenes Gesicht sah. »Pfui, was für eine Fresse!«, rief er, spie in das Eisloch und erhob sich wieder. Er trottete ein wenig umher, um den plötzlichen Zorn abzuschütteln, legte sich dann direkt auf den Schnee – er hatte ja Pelzjacke und wattierte Hosen an – und fiel in einen ungesunden, schweren Schlaf.

Er erwachte der Kälte wegen. Es dämmerte, ein Wind wehte. Kein einziger Angler war mehr auf dem See zu sehen. In der Ferne trotteten zwei Hunde gemächlich über das Eis. Es wäre jetzt an der Zeit gewesen zurückzukehren, aber Karzew wurde von einer niederdrückenden, trüben Gleichgültigkeit ergriffen: »Sollen sie mir alle den Buckel runterrutschen…«. Es war niemand in der Nähe, auch nicht in weiterem Umkreis: »Gut so, hier bleibe ich. Das ist er, mein dritter Tag… Ist doch egal, ob er lang oder kurz ist, wichtig ist allein, dass die Alte recht hat: es sind nur drei Tage, der dritte ist der letzte… Keiner da… und ich brauche auch niemanden…«

Er hob seinen Kopf und sah, dass die Hunde näher herbeigekommen waren und sich Karzew zugewandt hatten. »Ich habe nicht einmal etwas, womit ich sie bewirten könnte. Bestimmt sind sie auf Sauftour… oder kommen gerade von der Sauftour zurück…«

Plötzlich erhob er sich, noch bevor ihm richtig bewusst wurde, was hier eigentlich von statten geht, ruckhaft, griff nach dem Eisbohrer und erstarrte in schierer Angst. Er wollte schreien, konnte es aber nicht – sein Hals und sein Kiefer verkrampften sich, als habe sie eine starre Lähmung ergriffen. Und erst in diesem Augenblick vernahm Karzew das verrückte, gehämmerte Raunen des Blutes in seinen Schläfen: »Wöl-fe, Wöl-fe, Wöl-fe…«, und nun erst begriff er seine Lage und konnte sie einschätzen.

Die Tiere standen regungslos da: Sie warteten in aller Geduld und Ruhe. Karzew ließ die Arme sinken und beugte sich hinunter – diese Bewegung pflegte streunende Hunde immer zuverlässig zu verscheuchen – aber die Wölfe zuckten nicht mit der Wimper. Er hob eine leere Flasche auf und schleuderte sie in Richtung der Tiere. Sie schlug ein paar Schritte vor ihnen auf der festen Schneedecke auf und glitt weiter. Die Wölfe sprangen ein kleines Stück weit zurück und blieben wieder wie angewurzelt stehen. Da warf sich Karzew, mit sich überschlagender Stimme brüllend, auf die Wölfe.

Es blieb nur noch ganz wenig: Er holte bereits mit dem Eisbohrer aus und war dazu bereit, alles rechts und links kleinzuschlagen, solange seine Kräfte reichten…

Gleichzeitig bemerkte er, dass er den Tieren durchaus keinen Schrecken eingejagt hatte – die zuckten nicht einmal, kuschten nicht, aber es schien, als ob Karzews blindwütiger Wille, seine Haut zu retten, einen gewissen Eindruck auf die Wölfe machte: Sie wandten sich ab und begaben sich in leichtfüßigem Trott, fast im Gleichschritt und einer in den Fußstapfen des anderen, in Richtung der Siedlung.

Karzew wollte schon erleichtert aufatmen, wurde aber sogleich dessen gewahr, dass das noch verfrüht wäre, dass nämlich die Gefahr noch nicht vorüber war. Es wurde schon sehr dunkel, er musste sich zur Siedlung hin begeben, aber genau dahin bewegten sich ja auch die Wölfe… Er nahm seinen Kasten auf und eilte ihnen hinterher. Er lief schnell, fast schon, dass er rannte und hielt das anderthalb Meter lange Eisen des Eisbohrers krampfhaft in seinen Händen fest.

Da er auch einen Angriff von hinten befürchtete, drehte er sich oft um, spähte in die Dunkelheit zu beiden Seiten.

Schließlich kam er außer Atem und blieb stehen, setzte sich auf seinen Kasten, um Atem zu schöpfen, und hörte plötzlich:

»Prrr! Tagchen, Anglersmann! Hat dir der Tag nicht gereicht?« Ein Pferdeschlitten kam heran und hielt neben ihm; auf dem Bock saß das Männchen von gestern.

Karzew begann damit, eilig und abgehackt seine Lage zu schildern.

»Ja, weiß ich!«, antwortete das Männchen. »Die sind auf die Hunde aus. Ich habe auch meine Flinte immer dabei« – bei diesen Worten warf er die Flechtmatte beiseite und zeigte ihm das Gewehr – »aber die Halunken wollen mir nicht unterkommen! Steige ein, wir fahren gemeinsam weiter… Setz dich direkt auf den Sack – der Fisch darin ist gefroren, den kannst du nicht zerquetschen.«

»Woher kommt denn so viel Fisch?«

»Na, den fangen wir mit dem Netz für den Laden. Wenn du welchen willst, kannst du welchen kaufen: wir bringen ihn gleich in den Laden, da kannst du dir welchen mitnehmen. Sitzt du?«

Sie fuhren los. Karzew konnte nicht schweigen, er redete und redete, wie er die Wölfe erst für Hunde hielt, wie er die Flasche nach ihnen warf, wie er rannte… »Kein bisschen haben sie sich erschreckt: ein wenig zur Seite sind sie gegangen, als wäre nichts gewesen…«

»Was sollten sie sich auch fürchten? Sie sind hier die Herren! Wie viele Kälber haben sie auf der Farm gerissen, und wie viele Hunde! Alle haben sie sich geholt. Nur Buska hat keine Angst vor ihnen – also die Katze. Die wohnt auf der Farm. Sie selbst ist kohlrabenschwarz – ganz fürchterlich! Ihr Kopf aber ist schneeweiß, als sei sie ergreist. Nun ja… die Wölfe kreuzen auf, und sie, die Katze, rennt auf den Dächern umher und heult – hat den Anschein, als wolle sie die Räuber hänseln. Sie werden mit der Zeit verärgert und stoßen schließlich auch ihre Heuler aus. Das hört dann die Wachfrau, und da macht sie, zack!, zum Beispiel den Trafo für die Melkanlage an. Das Ding macht einen Lärm, als befinde man sich mitten in einem Bombenangriff… Hast du mal einen Bombenangriff erlebt? Nee?.. Naja, du warst da ja auch noch ganz klein. Obwohl auch die Kleinen ihren Teil davon abbekommen haben. Hast dann wohl Glück gehabt. Jedenfalls, die Wölfe nehmen dann eben Reißaus. So eine ist sie, die Buska… Ist auch vorgekommen, dass sie vom Dach fiel, natürlich nur aus Versehen. Mitten in die Wölfe hinein. Aber das machte ihr nichts, hat immer ihre Haut retten können – wie die das angestellt hat, wer weiß das schon…«

»Legt euch doch mal auf die Lauer nach den Wölfen…«

»Gelauert haben wir« – der Mann winkte ab. »Solange du lauerst, fehlt von ihnen jede Spur, und kaum bist du weg, sind sie sogleich an Ort und Stelle…«

Sie fuhren ans Ufer und kamen auf die Straße. Den Fisch luden sie im Laden ab, wo Karzew fünf Kilogramm davon kaufte. »Da habe ich nun also etwas, was ich zurück nach Moskau bringen kann«, sagte er fröhlich, als er die Barsche in einer Plastiktüte verstaute. »Sonst ist‘s doch immer so – bringst du nichts mit heim, fragt die Frau, wo ich gewesen bin; bringst du Kleinkram, so sagt sie: Plage dich selbst damit ab.«

Der Mann fuhr ihn dann auch noch bis zu Sojkas Haus. Und da ging es dann los: »Oh« und »ah«, und »Wo waren Sie denn so lange verschwunden«, sowie »Wir haben uns hier alle schon Sorgen gemacht«. Karzew brachte wieder seine Mückenlarven unter, sah wieder fern und aß Abendbrot.

Aber an diesem Abend verließ ihn die Glückseligkeit keinen Augenblick lang. In diesen Momenten liebte er alle: Nicht nur seine Kinder, seine Frau, die Hausherrin und ihre Tochter, er liebte den Fuhrmann, der ihn gerettet hatte, die alte Nachbarin, die sich wieder erholt hatte, die hiesigen Angler… Er liebte einfach alle. Und er liebte sie bedingungslos und ohne Vorbehalt.

Als er sich schlafen legte, sah er im Ankleidespiegel sein Spiegelbild: seine Augen glänzten, die Wangen glühten, die Lippen zerflossen in einem breiten Grinsen. »Das ist es, was frische Luft macht, das ist es, was die Angelei bedeutet!« – er löschte das Licht, legte sich nieder und fügte in Gedanken hinzu: »Besonders mit Wölfen, und besonders, wenn bereits der dritte Tag läuft…« – hielt also der Versuchung nicht stand, sich selbst doch noch einen Dämpfer zu versetzen. Und sogleich spürte er, wie das Blut aus seinen Wangen wich, die Augen trockener wurden. »Würde mich interessieren, wie ich jetzt wieder aussehe«, dachte er mit kühler Ironie, hatte aber keine Lust mehr darauf, sich wieder zu erheben und das Licht anzuschalten.



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