01.
Okt
2016

4
min

Der Stierkämpfer

"Der Stierkämpfer" ist eine Kurzgeschichte von Jaroslaw Schipow. Sie ist in der russischen Literaturzeitschrift "Nasch Sowremennik" ("Наш современник") Nr. 11/2014, erschienen.

Damals waren wir an kleinen Flüsschen unterwegs, in denen es Äschen gab. Das war in der Oblast Twer, vielleicht dreihundert Werst von Moskau entfernt; dabei war der Fisch aber durchaus sibirisch. Mein Begleiter war ein hiesiger Schriftsteller, der diese Gegenden bis in solche Details erforscht hatte, dass er auch noch den Ruf eines Heimatkundlers genoß. Wir nächtigten in den Wäldern, auf Tannenreisigbetten am Lagerfeuer, und waren selbstverständlich immer unausgeschlafen.

Von einer solchen Tour kehrten wir also zurück: wir traten auf einen Feldweg gegenüber eines kleinen Dorfes und warteten auf den Bus. Der Tag war sonnig und warm. Mein Begleiter machte es sich auf der Bank unter dem blechernen Regendach bequem, das die Bushaltestelle bezeichnete, ich aber legte mich daneben aufs Gras, das noch frühlingshaft grellgrün und noch kein bißchen von Staub bedeckt war.

„Ist dir deine Gesundheit egal?“, fragte er mich.

Er war älter als ich und folglich auch weiser.

„Ist sie nicht“, antwortete ich.

„Die Erde ist doch noch kalt.“

„Ja, sie ist kalt, aber ich habe keine Lust, mich zu erheben.“

„Na, dann bleibe eben liegen...“

Und so blieb ich auch liegen.

Die Sonne wärmte mich, eine Hummel summte. Ich wurde schläfrig. Da aber ereignete sich etwas, das zuerst von einem unerklärlichen Lärm begleitet wurde: ich schaffte es gerade, mich auf die Ellenbogen zu erheben und sah, wie ein riesiger rosafarbener Stier, die Gartentür vor dem letzten Häuschen zerbrechend, in dessen Gemüsegarten stürmte, während irgendein Kerl, der offenbar vor dem Tier floh, voller Panik in die Bretterbude sprang, welche für bekannte Bedürfnisse dort errichtet worden war.

Der Stier hielt aber keinen Augenblick inne: in Sekundenbruchteilen flog die Bretterbude in die Luft und barst wie bei einer Explosion. Der Kerl vollzog eine Art Salto mortale über den Lattenzaun, fiel auf die Straße, erhob sich aber sogleich wieder und stürzte die Dorfstraße entlang. Sicher suchte er fieberhaft nach einem sichereren Unterschlupf.

Sein Verfolger allerdings kam, nachdem er die Zerstörung angerichtet hatte, wieder zur Ruhe und ging seiner Wege. Ich fragte meinen Begleiter, aus welchem Grunde der Stier rosafarben war. Dabei stellte sich heraus, dass er in Wahrheit beige war, und die Sonnenstrahlen ihm zu dieser Tageszeit eine solch unerwartete Farbgebung verliehen.

Diese Episode an sich ereignete sich blitzartig und blieb im Gedächtnis haften, allerdings erschloss sich mir ihre ganze Bedeutungstiefe erst im Spätherbst.

In den Sommermonaten sind wir dieser Art Angelei nicht nachgegangen: Äschen sind, wie bekannt ist, eine sehr empfindliche Art Fisch, den man so ganz und gar nicht lagern kann. Im Frühjahr oder im Herbst mag das noch gehen, und selbst da waren wir bestrebt, unseren Fang möglichst bald an die Leute in den unterwegs gelegenen Siedlungen zu bringen; im Sommer nun, bei der Hitze, die da zu herrschen pflegt, ist das aussichtslos. Der Fisch verdirbt in kürzester Zeit.

Es kam so, dass eine unserer Herbsttouren in genau dem gleichen Dorf ihren Abschluss fand. Es gab einen nahezu schwerelosen Sprühregen, und diesmal legte ich mich natürlich nicht ins Gras, sondern setzte mich neben meinen Begleiter unter das Regendach. Da saßen wir nun und erinnerten uns an den Vorfall im Frühjahr, als plötzlich genau der gleiche Stier hinter dem äußersten Häuschen auftauchte. Tatsächlich hatte er diesmal deutlich erkennbar eine beige Farbgebung. Und diesmal jagte er auch niemandem hinterher - im Gegenteil: ein junges Kerlchen im Regencape zog ihn an einem Strick hinter sich her. Als dieses Gespann auf Höhe der Bushaltestelle kam, kam es wie von selbst zu einem Gespräch zwischen uns, bei dem sich uns dann auch das ganze traurige Hirtenlied des Stiers namens Platoschka offenbarte.

Wir erfuhren, dass der Kerl, der im Frühjahr vor diesem Stier Reißaus nahm, hier als Hirte tätig gewesen ist und, wie es aussah, stark der todbringenden Leidenschaft des Alkoholkonsums frönte. Aus diesem Grunde schlief er des Öfteren im Schatten unter irgendeinem Busch ein. Da ging die Führung der Kuhherde immer auf Platoschka über, der auf der Suche nach fetteren Weidegründen seine Herde auch sonst wohin führen konnte. Mitunter kam die Herde so auf Felder, die zu ganz anderen als zu Weidezwecken bestellt waren.

Die Vorgesetzten waren mit einem solchen Hirten selbstredend unzufrieden, er nun ließ seinen Frust an den Tieren aus, indem er sie misshandelte. Es kam vor, dass er auf den Viehhof kam, wo der Stier an seinem Nasenring festgebunden war, und sich daran machte, ihn mit einem Stock zu prügeln, während er boshaft zwischen die Zähne hindurch zischte: "Ich werde dir gleich deinen Stierkampf veranstalten!" Im Frühjahr eskalierte diese Auseinandersetzung nahezu zu einem Unglück, allein die Bretterbude rettete den Hirten.

Vor einer Woche allerdings, als der Hirte zum unzähligen Male alle Grenzen der Vernunft hinter sich gelassen und unter einem Busch eingeschlafen war, trampelte Platoschka ihn zu Tode. Das junge Kerlchen, das ein Hirtenjunge war, krallte sich am Hals des Stiers fest, konnte ihn allerdings nicht an seiner Tat hindern, so dass der Lebensfaden des dörflichen Stierkämpfers auf diese Weise so ruhmlos abriss. Platoschka bekam für dieses Verbrechen in aller Eile sein Urteil: ab ins Schlachthaus.

„Jetzt halten ihn alle für einen Mörder“, sagte der junge Kerl. „Aber eigentlich ist er ganz friedlich... und klug... und die Kühe achten ihn... Na, macht's gut. Komm, Platoscha.“

Der Stier, welcher während unseres gesamten Gesprächsverlaufs im Sprühregen gestanden hatte und nass wurde, schritt demütig hinter dem Hirtenjungen her. Er ging ruhigen Schrittes, war sich keinerlei Schuld bewusst, und schaukelte mit seinem großen Kopf im Takt zu seinen Schritten, so, wie es unter all seinen Artgenossen üblich ist, die auf Erden wandeln.



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